Seite:Die Gartenlaube (1884) 476.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

von Tholenstein mir mittheilte und wobei sie einen Freundesdienst von mir in Anspruch nahm, ist das Folgende:

Melanie Tholenstein hatte von der Natur eine schöne Stimme erhalten, zu deren Ausbildung sie den Unterricht einer bewährten Gesanglehrerin genoß, die unfern von dem Stift der Tante wohnte und in deren Wohnung sich Melanie zum Empfang des Unterrichts hinüberzubegeben pflegte. Leider wurde sie dadurch in nähere Beziehungen zu der Familie der Lehrerin gezogen, welche aus einem Mann, der sich mit Graveur- und Ciselirarbeiten beschäftigte, und dessen jüngerem Bruder bestand, einem Komödianten, der ehemals Officier gewesen war, dann den Dienst wohl nicht aus ganz klaren und durchsichtigen Gründen hatte verlassen müssen und nun auf einem Theater zweiten Ranges den Helden spielte. Von diesem Menschen, der Melber hieß …“

Der Name Melber ließ Raban wieder seine Lectüre für einen Augenblick unterbrechen – er war auf nichts weniger gefaßt, als auf diesen zu stoßen, der eine seltsame Verwickelung anzukündigen schien . . .

(Fortsetzung folgt.) 

König Salomon und der Sperling.

Einst stand der König Salomon
Am Fenster früh um Sechse schon
Und sah mit Stolz und Herzensfreude
Auf seines Tempels Prachtgebäude,

5
Das er mit Weisheit und Bedacht

Erst kürzlich unter Dach gebracht.
Nun lag es da im Sonnenschein
Hell wie ein großer Edelstein.

Da nahm des Königs Auge wahr

10
Hoch auf dem Dach ein Sperlingspaar,

Das zwitschernd flog und liebesfroh
Sein Nestlein flocht aus Heu und Stroh.
Und da der Weise, wie bekannt,
Die Vogelsprache gut verstand,

15
Vernahm er, wie der Sperlingsmann

Zu seiner Hausfrau so begann:

„Was meinst du,“ sprach der Meister Spatz
Und blähte seinen Busenlatz,
„Wenn ich gebrauchend meine Stärke

20
Zerstören thät’ des Königs Werke?

Ein Tritt von mir – Geliebte, glaube –
Und dieser Tempel liegt im Staube.“

„Du Prahlhans!“ lachte Salomon
Und rief den Spatz vor seinen Thron

25
Und sprach: „Denkst du, armselig Ding,

Von meinem Tempel so gering,
Daß du zu stürzen dich getraut,
Was tausend Hände aufgebaut?“

„Verzeiht mir,“ sprach der Spatz dagegen,

30
„Ich that’s nur meines Weibes wegen,

Auf daß, die mich zum Herrn gewann,
Respect bekommt vor ihrem Mann.“

Da lachte König Salomon
Und neigte sich von seinem Thron

35
Dem Sperling zu. – „Zeuch heim, du Wicht!

So unrecht hast du eben nicht.
Was doch ein grundgelehrter Mann
Von einem Sperling lernen kann!“

Er sprach’s und ging mit festem Schritt

40
Zur Königin, Frau Sulamith.


 Rudolf Baumbach.


Verkaufte Landsleute.

Es ist eine bekannte Thatsache, daß der Deutsche sich vor allen andern Nationalitäten durch seine Auswanderungssucht auszeichnet. Keine fremde Nation ist in England und im Besonderen in London so stark vertreten, wie die deutsche. Aehnlich ist das Verhältniß in Amerika. Geradezu aber überfluthet werden die niederländischen Werbedepôts durch deutsche Auswanderer, welche sich, durch Noth oder Abenteuergelüste verleitet, für 200 Gulden der holländischen Regierung auf sechs Jahre verkaufen, um bald darauf im „Zwischendeck“ eines Passagierdampfers verladen und als „Soldaten“ nach Niederländisch-Indien übergeführt zu werden. Zu Grunde gegangene Existenzen aus allen Ständen, vom Grafen bis zum bankerott gewordenen Kaufmann und weggejagten Unterofficier herab, geben sich in Harderwijk ein unbeabsichtigtes Rendez-vous, um jenseits des Oceans auf einer der indischen Sunda-Inseln, Java, Borneo, Sumatra etc., von Neuem das Glück zu versuchen, welches ihnen auf heimathlichem Boden nicht lächeln wollte.

Wer das achtzehnte Lebensjahr erreicht, das sechsunddreißigste nicht überschritten, unverheirathet, mindestens 1,55 Meter groß, körperlich diensttauglich ist und die erforderlichen Legitimationen besitzt, wird mit offenen Armen aufgenommen, denn die holländische Regierung braucht für Indien mehr Soldaten, als sie durch die Werbung bekommen kann. Von der Annahme sind nur Deserteure und wegen politischer Verbrechen Ausgewanderte ausgeschlossen, ferner bestimmungsmäßig auch mit Zuchthaus bestrafte Personen. Jeder Geworbene wird als Gemeiner bei der Infanterie eingestellt. Jedoch kann dem Wunsch nach Versetzung zu einer andern Truppengattung bei denen entsprochen werden, welche authentisch nachweisen können, bereits bei derselben gedient zu haben. Die früher in einer fremden Armee eingenommene Stellung und bekleidete Charge wird aber in keiner Weise berücksichtigt. Vor Ablauf des auf sechs Jahre berechneten Engagements kann der Geworbene seine Freiheit nur durch Loskaufen erlangen, das heißt: er muß der holländischen Regierung das empfangene Handgeld von 200 Gulden und alle sonstigen verursachten Kosten (Transportkosten nach Indien, Verpflegungskosten etc.) zurückerstatten.

Ganz Harderwijk lebt von der Werbung. Der ausgewanderte Deutsche wohnt dort bis zu seiner definitiven Annahme bei einem sogenannten Werberwirth, d. h. einem Restaurateur und Hausbesitzer, dessen einziges Geschäft darin besteht, Deutsche und Holländer für die Werbung zu ködern und bei ihrer Ankunft in Harderwijk in Logis und Kost zu nehmen. In die Tasche dieses Biedermanns fließen in vielen Fällen jene 200 Gulden Handgeld, denn die meisten Auswanderer haben bei ihrer Anmeldung auf dem Werbedepôt nicht alle geforderten Legitimationen zur Hand. In der Regel fehlt der von der heimathlichen Regierung auszustellende Auswanderungs-Consens oder das amtliche polizeiliche Führungsattest, ohne deren Beibringung die Annahme nie erfolgen kann. Ehe diese Papiere nun aus der Heimath beschafft werden, vergehen oft Wochen und Monate. So wird in der Regel jener „silberne Köder“ bei dem Werberwirth verwohnt, verzehrt und hauptsächlich vertrunken. Selbst gänzlich mittellosen Leuten wird mit Vergnügen Credit gewährt, sogar baares Geld geliehen, wenn nur die geringste Aussicht vorhanden ist, daß doch schließlich ihre Annahme und somit die Auszahlung des Handgeldes erfolgt.

Wenn die geforderten Legitimationen auf ordnungsmäßigem Wege nicht zu beschaffen sind, so werden sie gefälscht, oder wie man es in Harderwijk nennt, „fabricirt“. In Lüttich soll früher eine Art „Fabrik“ für solche Atteste bestanden haben. Auch in Harderwijk selbst ist seiner Zeit ein solcher Attestfabrikant entdeckt und aufgehoben worden, aber das Geschäft wird natürlich mit sorgfältigster Discretion weiter betrieben.

Begeben wir uns auf eine kleine Inspectionsreise durch die Casernen des Werbedepôts. Dort summen alle erdenklichen Sprachen an unser Ohr: der Deutsche unterhält sich mit seinem Landsmann in der Muttersprache, der Belgier spricht ein schlechtes

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_476.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2024)