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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


bürgerlichen Gemeinwesen, um die Ordnung zu erhalten und alle Mittel aufzubringen, welche zur Förderung der oben angegebenen Absichten dienlich sind. Zu diesem Zwecke werden wir nach Erforderniß der Zeit und Umstände solche gerechte und billige Gesetze, Beschlüsse, Verfügungen und Aemter aufstellen; ergehen lassen, festsetzen und einrichten, welche für das allgemeine Beste der Kolonie werden für nöthig und passend erachtet werden und denen wir hiermit allen gebührenden Gehorsam und alle pflichtmäßige Unterwerfung geloben.“

Prüfen wir das Aktenstück genau, so werden wir finden, daß wir es in dieser „ersten demokratischen Verfassungsurkunde der Neuen Welt“, wie man ja wohl dasselbe genannt hat, nicht mit hochklingenden Phrasen zu thun haben, sondern mit der schlichten Herzensmeinung praktischer Männer, welche das, was sie dachten und sagten, auch zu thun entschlossen waren. Ebenso, daß der berühmte Geschichtschreiber der Vereinigten Staaten berechtigt war, über das Geschehniß vom 11. November 1620 zu bemerken: „Dies war die Geburt der volksthümlichen Freiheit. Das Mittelalter hatte auch Charten und Verfassungen gekannt, allein das waren bloße Verträge über Steuerbefreiungen, besondere Freiheiten oder Bevorzugungen, Adelspatente, Gewährungen städtischer Vorrechte oder Einschränkungen der fürstlichen Gewalt zu Gunsten von feudalen Instituten gewesen. In der Kajüte der ‚Maiblume‘ dagegen gewann die Menschheit ihre Rechte wieder und wurde eine Gesellschaftsordnung aufgerichtet, welche auf gleiche Rechte und Pflichten aller gegründet war und das ‚allgemeine Beste‘ zum Zwecke hatte.“[1] Zum erstenmal in der Weltgeschichte erschien hier als Staatsbasis die absolute Rechtsgleichheit und als Staatszweck das allgemeine Wohl. Im übrigen betrachteten sich die Pilgrime der „Maiblume“ noch als Unterthanen der englischen Krone und war das in dem Dokument auch ausdrücklich erwähnt. Allein es war, wie die Sachen lagen, eine Naturnothwendigkeit, daß dieses Verhältniß nur eine theoretische Bedeutung haben konnte und daß in der Praxis die neue Ansiedelung von Jahr zu Jahr mehr im demokratisch-republikanischen Sinne sich entwickeln mußte. Von diesem Sinn und Geist lieferten die Einundvierzig der „Maiblume“ sofort einen thatsächlichen Beweis, indem sie einen aus ihrer Mitte, den John Carver, zu ihrem Oberhaupt wählten und zum „Governor“ der zu gründenden Kolonie auf Jahresdauer bestellten. Den Rest des Tages verbrachten sie damit, ihre Waffen in Stand zu setzen, ihr Gepäck zu lüften und überhaupt alles zur Landung vorzubereiten. Doch hatte diese am nächstfolgenden Tage noch nicht statt, wie sehr sich auch alle aus der Enge des Schiffes an’s Land sehnen mochten. Denn dieser Tag war ein Sonntag oder, wie die Puritaner lieber sagten, ein Sabbath, dessen strenge und stille Feier die gewissenhaften Sektirer unter allen Umständen zu halten für eine unumgängliche religiöse Pflicht ansahen[2].

Am Montag machte sich nun zunächst eine Schar entschlossener Männer auf, an’s Land zu gehen und dasselbe auszukundschaften. Sie thaten dies unter der Führung von Miles Standish, der früher Officier gewesen, ein erfahrener Kriegsmann war und in seinem kleinen unansehnlichen Körper, welcher ihm den Spitznamen Hauptmann Knirps (eigentlich Schrumpf, captain Shrimp) eintrug, doch Raum hatte für eine heldische Seele. Man hat ihn mit Fug den Ritter der ersten neuenglischen Kolonie genannt, denn überall, wo es Gefahren zu bestehen galt, war er voran und Führer, ebenso entschlossen und tapfer, als kaltblütig und umsichtig. Die Kundschafter streiften etliche Tage lang an den Küsten hin und landeinwärts durch die Wälder. Auf diesen Streifzügen gelangten sie auch, wie einer gemeldet hat, in „ein tiefes Thal, wo wir nur mühsam durch das hohe Gras und das dichte Buschwerk dringen konnten. Ein Reh sprang auf und eine schöne Wasserquelle sprudelte empor. Das machte uns herzliche Freude. Wir setzten uns nieder, tranken das erste Wasser aus dem Boden von Neu-England und niemals hatte uns ein Wassertrunk also geschmeckt.“ Im übrigen war es ein schwieriges Wandern in der winterlichen Wildniß, die schneebedeckten Hügel auf und ab oder durch pfadlosen Urwald. Mehr als einer der muthigen Männer hat sich bei diesen mehrere Wochen lang fortgesetzten Erkundungen nach zur Ansiedelung geeigneten Oertlichkeiten den Keim zu frühzeitigem Tode geholt. Einmal hatten sie auch den mit einem Pfeilhagel eröffneten Angriff eines schweifenden Indianerhaufens abzuweisen, welchen aber eine einzige Salve aus den Feuergewehren in die Flucht sprengte.

Das Gesammtergebniß der Auskundschaftungen war nicht gerade sehr ermuthigend, doch auch nicht gerade abschreckend. Viel Wald überall. Auch Anzeichen, daß der Boden nicht eben gar fruchtbar. In den Gewässern der Bai jedoch eine Fülle von Fischen und in den Wäldern am Gestade eine Fülle von Jagdwild. Spärliche Spuren von indianischer Bevölkerung, welche früher hier zahlreicher gewesen sein mußte, wie verschiedene Begräbnißplätze anzeigten. Jetzt nur da und dort ein indianischer Wigwam sichtbar und in der Nähe dieser Hütten mit Mais bepflanzte Felder. Endlich allenthalben vortreffliches Quellwasser, worauf die nüchternen Puritaner großen Werth legten. Da nun die rauhe Jahreszeit längeres Forschen, Besinnen und Zaudern verbot, beschloß die Gemeinde, die endgiltige Landung zu bewerkstelligen und auf einer erhöhten Bodenfläche am Ufer die erste neuenglische Kolonie zu gründen.

Am 11. December alten oder am 21. neuen Stils wurde gethan, wie beschlossen. Dieser Decembertag, ein Montag, heißt in Neu-England und in der ganzen Union der „Pilgerväter- oder Vorvätertag“ und gilt für einen Feiertag. Der Felsvorsprung, auf welchen die Pilgrime zuerst die Füße setzten, galt und gilt noch jetzt für heiligen Boden und heißt der „Vorväterfels“. Nach einem Dankgottesdienst für glücklich vollbrachte Landung begannen sofort die Besiedelungsarbeiten, welche sich vor allem auf die Erbauung eines gemeinsamen Vorraths- und Versammlungshauses richteten. Die Umgränzung und Ausmessung der Ansiedelung wurde vollzogen. Sie sollte den Namen Neu-Plymouth tragen in dankbarer Erinnerung an die Hafenstadt Plymouth daheim, von welcher die Pilgrime ausgesegelt waren. Ein Hügel, an der Peripherie des besetzten Stück Landes gelegen, wurde zur Anlage eines Fort bestimmt. Die ganze Genossenschaft theilte der Governor und seine Aldermen in 19 Familien, denen sich „zur Wahrung guter Sitte“ auch die einzelnen Ledigen anzuschließen hatten. Jeder Familie wurde sodann ein der Zahl ihrer Mitglieder entsprechender Bauplatz sammt dazu gehörigem Grund und Boden angewiesen und zwar durch das Loos. Auf der ihr durch dieses zugetheilten Stätte mußte jede ihr Haus bauen, d. h. aufblocken; denn nur von primitiven Blockhäusern konnte ja zunächst die Rede sein.

So hob, an der Schwelle des Jahres 1621, die Gründung von Neu-Plymouth an. Das von einem der vorragendsten der Pilgerväter, William Bradford, geführte Tagebuch gewährt uns einen deutlichen Einblick in die furchtbaren Mühsale, Anstrengungen und Leiden, welche über die kleine Schar muthiger Männer und wackerer Frauen hereinbrachen, die es unternahmen, der Wildniß eine neue Heimat abzuringen. Ihre schwerste Prüfungszeit waren die drei erste Monate des neuen Jahres. Viele erkrankten, manche starben. Mitunter waren die Ueberlebenden und Gesunden so schwach, daß sie kaum Kraft genug besaßen, die Todten zu begraben. Aber sie hielten aus. Sie setzten all der Sorge, Noth und Erschöpfung einen Heldenmuth entgegen, dessen unerschöpfliche Quelle ihre religiöse Ueberzeugung war. Hier, wenn irgendwo und irgendwann wurde die Wahrheit offenbar, daß zur Schaffung von Großem immer ein Stück Fanatismus erforderlich ist. Nur Puritaner des 17. Jahrhunderts vermochten mit so kärglichen Mitteln die ersten Kolonien von Neu-England zu gründen. Ohne die kräftige Seelenspeise, welche ihm sein felsenfester Glaube gab, hätte der nachmalige Riese der transatlantischen Republik seine drangsälige Kindheit nicht durchzukämpfen und durchzuleiden vermocht. Alles angesehen, war die puritanische Gründung der Pflanzstaaten von Neu-England ein Triumph des Idealismus, wie es einen zweite kaum gibt.

(Schluß folgt.)




  1. G. Bancroft, History of the United States, I, 310.
  2. Wir sind bis in alle Einzelheiten hinein über die Erlebnisse der „Pilgerväter“ unterrichtet durch die Tagebücher und anderen Aufzeichnungen, welche mehrere derselben hinterlassen haben. Diese höchst werthvollen Quellenschriften sind gesammelt und gedruckt in den „Chronicles of the Pilgrim Fathers“, Boston 1841.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_412.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2021)