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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Salvatore.

Napoletanisches Sittenbild.0 Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


In der Absicht, die unerklärlichen Widersprüche in den Aussagen und besonders in dem Gebahren Salvatore’s zu lösen, hatte Cesari einen mehrtägigen Aufenthalt auf Capri genommen. Er wollte Maria aufsuchen, sie beobachten, ihr einige Fragen vorlegen und so dem Räthsel allgemach auf die Spur kommen.

Bereits von der Mutter Giulietta’s, in deren Häuschen er abgestiegen, hatte er Manches erfahren, was ihm zu denken gab.

Klarer noch und präciser drückte sich Gustav Nyborg, der nordische Maler, aus.

Nyborg – wir wissen es – hatte sich gleich von Anfang lebhaft für Maria und den Apulier interessirt. Mit dem Instincte des Künstlers ahnte er das Ungewöhnliche, Fremdartige, Extravagante im Charakter des jungen Mannes, und das Hingebende, Willenlose im Wesen der Zingarella. Er fühlte, daß diese Willenlosigkeit nicht ursprünglich in ihrer Natur gelegen, daß der Apulier erst ihr ganzes Denken und Sein dermaßen verzaubert hatte. Der psychologische Reiz dieser seltsamen Unterjochung, verknüpft mit der unvergleichlichen Schönheit des jungen Paares, war für Nyborg ein unerschöpflicher Quell bewußter wie unbewußter Betrachtung.

Als nun die Nachricht von dem tollkühnen Attentat kam, ließ der Maler die Zingarella nicht aus den Augen. Zu dem brennenden Interesse des Künstlers kam die Theilnahme des gutherzigen Menschen. Ein paarmal hatte er das Mädchen in seiner wohlthuend freundlichen Weise angeredet und ihr noch mehr durch den Ton seiner Stimme, als durch den Inhalt der Worte zu verstehen gegeben, daß ihr Schicksal ihm nahe gehe. Je größer nun das Zartgefühl war, mit welchem er jede Berührung der vermeintlichen Wunde vermied, um so mehr überraschte ihn die nervöse Absichtlichkeit Maria’s, – nicht nur in den flüchtigen Gesprächen mit ihm, sondern auch sonst. Maria trug die Lösung ihrer Beziehungen zu Salvatore vor allen Leuten förmlich zur Schau. Unter normalen Verhältnissen hätte die Braut, wenn sie ob so blutiger Missethat von ihrem Geliebten sich lossagte, das Bedürfniß der Stille und der Zurückgezogenheit verspürt; ihrem Zorn wäre die Scham zur Seite gegangen. Maria dagegen schien von dem unwiderstehlichen Verlangen beherrscht, allenthalben über die Sache zu reden, ihrer Entrüstung Luft zu machen und gleichsam den Beifall herauszufordern für ihr würdiges und correctes Verhalten. Und nun kannte man doch die weichmüthige Zingarella und ihre leidenschaftliche Liebe! – Nein, die Sache war unnatürlich: das erkannten selbst die harmlosen Bewohner von Capri, geschweige denn ein Mann von dem geschulten Künstlerblicke des dänischen Malers. –

Cesari hatte sich das Alles von Gustav Nyborg bis in’s Kleinste erzählen und schildern lassen.

Als er am Tage darauf die Hütte der Zingarella betrat, empfing sie ihn mit beispielloser Erregung.

„Laßt mich, Signore, laßt mich!“ rief sie emporfahrend, – denn sie wußte bereits, es war der Vertheidiger Salvatore’s, der sie hier aufsuchte –. „Redet mir nicht von Dem, der todt für mich ist!“

Dann verließ sie unter einem nichtigen Vorwand das Haus – und begab sich zu Silvio, dem Vater Alberto’s. Silvio nämlich, sobald die Kunde von dem Verbrechen Salvatore’s nach Capri drang, hatte sich dem Mädchen mit väterlichem Wohlwollen wieder genähert, um sie in ihrem Unglück zu trösten, vielleicht auch, weil er von dieser Wendung der Dinge neues Heil für seinen wackren Alberto erhoffte. Maria, die bei diesen furchtbaren Aufregungen in der That das Bedürfniß einer Stütze verspürte, war auf die verwandtschaftliche Haltung Silvio’s eingegangen, und so traf es sich, daß auch Alberto wieder öfter mit ihr zusammenkam, von heimlicher Wonne erfüllt, daß er der angebeteten Zingarella in ihrer Trübsal beistehen durfte. Maria fühlte wohl, daß die begrabene Hoffnung im Herzen Alberto’s neu sich zu regen begann, sie machte sich Vorwürfe, aber sie fand keinen Ausweg. Ihm geradezu in’s Gesicht zu sagen: Du hoffst umsonst – das wäre ihr vorgekommen, wie ein halbes Geständniß, daß ihre Trennung von Salvatore nur Komödie sei, und wenn man das ahnte ... ach, sie hatte ja so wie so fortwährend die unbestimmte Empfindung, daß man ihr Gebahren durchschaue . . .

Cesari war seiner Sache nun so gut wie gewiß. Schon am folgenden Morgen begann er zu operiren. In aller Frühe schickte er an Maria ein Schreiben, das in kurzen, fast kategorischen Ausdrücken eine Besprechung unter vier Augen heischte, mit dem bedeutsamen Zusatz, nur bei genauester Beantwortung aller ihr vorzulegenden Fragen könne es ihr erspart bleiben, demnächst in Neapel vor dem königlichen Gerichtshof Zeugniß ablegen zu müssen.

Das wirkte.

Maria, auf’s Höchste erschreckt, ließ ihm sagen, sie stehe zu seiner Verfügung; er möge so um die Messe – der Tag war ein Sonntag – wenn ihre Muhme nach der Kirche gegangen sei, in den Hausgarten kommen.

Mit bangem Herzklopfen harrte sie auf das Erscheinen des Mannes, dessen Blick schon ausreichte, sie zu beunruhigen. Sie sammelte sich; sie nahm sich vor, absolut Nichts zu gestehen. Cesari jedoch, mit frostigem Lächeln auf sie zueilend, sagte ihr nach kurzer Begrüßung geradezu ins Gesicht, ihr Verhalten betreffs des Apuliers sei ein abgekartetes Spiel; sie solle bekennen oder das Schlimmste befürchten.

Er wußte ja selbst nicht, in welcher Richtung sie ihn aufklären würde; daß aber Entscheidendes zu erwarten stand, dafür sprach die tödtliche Blässe, die alsbald ihr verstörtes Antlitz bedeckte. Mit dieser Wahrnehmung hatte Cesari gewonnen. Er sprach ihr Muth zu; sie solle ihm ganz vertrauen; er sei ja nicht der Ankläger des Verhafteten, auch nicht der ihrige, sondern gewillt zu fördern, zu helfen und zu beschützen, wo dies irgend vereinbar sei mit der Achtung, die er sich selbst schulde.

Hatte die vornehme Ruhe und Ueberlegenheit seines Unglaubens ihr die Fassung geraubt, so flößte ihr dieser warmherzige Ton die lebendigste Sympathie ein. Zaghaft stammelnd gab sie ihm zu, daß nicht Alles so sei, wie es scheine, und nun fragte er mit logischer Unwiderstehlichkeit Eins nach dem Anderen aus ihr heraus, bis sie zuletzt Generalbeichte ablegte.

Auch ohne ihre Ausführlichkeit würde er nicht länger gezweifelt haben, daß Salvatore das leichtgläubige Opfer einer maßlosen Schurkerei war, selber nur schuldig insofern, als ihm die traurigste Begriffsverwirrung bezüglich dessen zur Last fiel, was der Staatsbürger im Interesse einer Partei-Regierung zu unternehmen befugt ist.

Cesari theilte der Zingarella diese Auffassung mit. Sie hörte gar nicht auf seine Gründe. So vollständig hatte er ihr Vertrauen erobert, daß die bloße Meinung ihr als Beweis galt. Die unverhoffte Aufklärung aber warf sie zu Boden. Sie zerraufte ihr Haar; sie umklammerte seine Kniee; sie wollte sich tödten.

Die Frist zu einer Gegen-Operation war allerdings kurz anberaumt. Noch am nämlichen Tage fuhr Antonio in Begleitung der Zingarella, von Alberto gerudert, nach Sorrento hinüber. Dem „Einsiedler“ ward – mit der Bitte um strengste Verschwiegenheit – angedeutet, Maria solle jetzt nachträglich im Proceß des Apuliers vernommen werden.

Von Sorrent ging die Reise mit dem schnellsten Corricolo, das man auftreiben konnte, über Castellamare und Portici nach der Hauptstadt – direct in’s Albergo zum „Goldnen Kreuz“.

Der Wirth und die Camerieri wußte sich jenes „Herrn aus Calabrien“ nicht zu erinnern; – auch des Mannes nicht, der für den Calabresen das Zimmer bestellt hatte. Den Portier von damals hatte man am ersten Januar entlassen. Giulietta war abwesend.

So beschloß Antonio zu warten. Um zehn Uhr Abends kehrte Giulietta in Begleitung eines halbwüchsigen Knaben von ihrem Ausflug zurück. Es war ihr Bruder, dem die Lateinschule von Salerno zwei Tage Urlaub gegeben. Strahlend vor Freude kam das Mädchen mit ihrem Alessandro die Treppe herauf – um plötzlich wie verwandelt stehen zu bleiben, da sie auf dem Freiplatze den Advocaten Cesari mit der unglücklichen Zingarella erblickte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_398.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2021)