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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 21.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Salvatore.
Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


Es war das Gefühl der vollkommensten Hülflosigkeit, was Salvatore in dem düstern Kerker bewältigte, und sofort war seine Einbildungskraft am Werk, sich Möglichkeiten zu malen, die ihm bis jetzt kaum in den Sinn gekommen.

„Wie,“ sagte er zu sich selbst, „wenn Monsignore De Fabris, der doch allein außer Nacosta um die Verabredung weiß, eines plötzlichen Todes stürbe? Der hohe Herr ist keiner mehr von den Jüngsten; er liebt den Luxus, das Wohlleben, die schweren sicilianischen Weine ...! Stand nicht kürzlich in der ‚Gazetta‘, daß zu Palermo ein Richter inmitten der Proceßverhandlung zusammengebrochen sei – das Opfer eines Gehirnschlages! Wenn Seine Eminenz den Cardinal De Fabris ein ähnliches Schicksal ereilte, dann war er, Salvatore, unrettbar verloren, mochte Emmanuele Nacosta noch so ernstliche Anstrengungen zu seiner Befreiung machen. Wer würde dem Polizei-Aspiranten glauben, daß Alles nur Komödie gewesen? Wer bezeugte eine so unwahrscheinliche Aussage? So unwahrscheinlich, daß Emmanuele sie voraussichtlich gar nicht versuchen würde, denn wenn er sie vorbrachte, lief er Gefahr, daß man die Sache zur Hälfte glaubte und eine Verabredung lediglich zwischen Nacosta und Salvatore annahm – zu leicht ersichtlichem Zwecke ...“

Es ward ihm siedend heiß bei diesen Erwägungen. In einer Anwandlung von Trostlosigkeit blickte er zu dem dreifachen Gitter auf, das etwa zehn Fuß hoch über dem Boden die kleine viereckige Maueröffnung verkreuzte, die einzige Lucke, durch welche das unheimliche Gelaß die Tageshelle empfing.

In der That, die Kerker von Pizzo Falcone waren ganz darnach angethan, die Schwarzsichtigkeit zur üppigsten Entfaltung zu bringen. Diese Quadern, dem Gemäuer der Hafendämme vergleichbar, wuchtig, unerbittlich und stets mit einer Feuchtigkeit überkleidet, deren Ausdünstung an den Salzgeruch faulender Meergewächse erinnerte; – dieser gestampfte Lehmboden mit den mannigfachen Unebenheiten und den eigenthümlichen Fußspuren in der Nähe des Wandrings, wo man die besonders gefährlichen Sträflinge an kurzen Stahlketten festschloß, dergestalt, daß sie nur einen begrenzten Halbkreis beschreiben konnten; – die halbzerschlissene Matte aus geflochtenem Spartgras mit der löcherigen Wolldecke; – die elende Holzbank; – und als Rest der dürftigen Ausstattung ein bauchiger Krug mit zwei Henkeln: – das war ein Gesammtbild von geradezu niederschmetternder Trübseligkeit.

Salvatore gedachte der Nachmittagsstunde, da er von der kleinen Marine zu Capri aus mit seiner liebeglühenden Zingarella in die leuchtende See gerudert.

In der Ekstase seines leidenschaftlichen Herzens schien ihm damals die unermeßliche Fluth und der endlos blauende Himmel zu eng für das gewaltige Begehren, das ihn erfüllte, für die stürmische Sehnsucht seines Gemüths nach Glück und Glanz und lebensvollem Genuß.

Jetzt sah er von diesem Himmel nur einen schmalen, flimmernden Streifen, umrahmt von dem festungsähnlichen Mauerwerk des schrecklichsten und verrufensten aller Verließe, und statt der Arme seiner Maria umschlang ihn der Bast der Stricke, deren Lösung der Kerkermeister ihm schnöde verweigert hatte.

Salvatore setzte sich auf die Holzbank. Die verschnürten Hände begannen zu schmerzen. Seine Stimmung sank tiefer und tiefer. Dann aber fand er das Gegengift wider all diese Eindrücke in der ewigen unerschöpflichen Quelle seines phantastischen Optimismus.

Anfänglich nur einem zweckmäßigen Entschluß seines Verstandes folgend, zwang er sich, die Zukunft, wie sie Nacosta ihm vorgespiegelt, wie er selbst sie mit Maria geträumt hatte, nach allen Richtungen durchzudenken, – und im Handumdrehen ward die Kunst zur Natur. Die sausende Einbildungskraft riß ihn fort; die Gegenwart mit ihren qualmenden Dämmerungen sank hinab in das Nichts; die Quadermauern öffneten sich; alle Blumen des Frühlings rankten herein; alle Wonnen des Paradieses durchströmten ihm die pochenden Adern.

Mit diesem ersten Triumphzug seiner gewaltigen Phantasie hatte er ein für allemal über die Schrecknisse des Kerkers gesiegt. Als nach Verlauf einer Stunde, vom Gefängnißwärter begleitet, ein höherer Beamter die Zelle betrat, um zunächst die Stricke durch regelrechte Handschellen ersetzen zu lassen und dann mit dem Verhafteten ein kurzes Verhör vorzunehmen, da empfing Salvatore die beiden Männer mit dem Ausdruck einer fast bedenklichen Zuversicht – bedenklich, weil es durchaus nicht seiner Rolle entsprach, wenn er zu gleichmüthig schien. Er sagte das auch sich selbst, und bemühte sich demgemäß, eine gewisse Beklommenheit zu erkünsteln.

Uebrigens that der Beamte redlich das Seine, um den Bestrebungen Salvatore’s in diesem Sinne gebührend nachzuhelfen; denn die inquisitorische Herbheit, die der Frager gleich zu Anfang

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_341.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)