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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Gleich darauf indeß schien der Signore das Bedürfniß zu fühlen, diesen Ausbruch seiner wahren Natur vor sich selbst gut zu machen.

Giulietta, nachdem sie ihre Bestellung beendigt hatte, kam auf dem Treppenabsatz der zweiten Etage wieder an ihm vorüber.

„Mein Kind,“ sagte er jetzt mit eigenthümlicher Salbung, „Ihr dürft mir nicht übel nehmen, daß ich vorhin im ersten Schreck eine Wendung gebraucht habe, die ich sonst aus Grundsatz verschmähen würde. Indeß, – ich versichere Euch, Euer Ellbogen ist ganz verteufelt – ich will sagen: ganz außerordentlich spitz, und Ihr flogt die Stufen herab, wie ein Stein aus der Schleuder.“

Giulietta war über diesen Wechsel der Tonart sichtlich erfreut, denn der strafende Blick des Zimmerkellners hatte ihr nichts Gutes geweissagt. Sie schaute dem Fremdling voll ins Gesicht, als ob sie sich überzeugen wollte, ob dort noch Spuren jener ersten Erbitterung zu finden seien. Die breiten, etwas gerötheten Züge athmeten jedoch ein überraschendes Wohlwollen; insbesondere mühten sich die grauen, blitzenden Augen, recht freundlich zu scheinen. Das Gesicht bekam dadurch einen frappirenden Ausdruck von Schalkhaftigkeit, da sich der rechte Augendeckel ein wenig mehr schloß als der linke.

Die Cameriera entschuldigte sich nochmals wegen der Ungeschicklichkeit, die ihr zur Last fiel, und schlüpfte dann mit dem Ausdruck höchster Befriedignng nach Numero sechszig.

„Das ist er,“ sagte sie zu sich selbst. „Der garstige Mensch, der die schöne Zingarella unglücklich machen will! Freut mich nur, daß ich ihn so angerannt habe! Das sei ihm ein Vorzeichen!“

Maria befand sich bereits auf dem Posten. Mit fiebernder Neugier lugte sie durch den Vorhang.

Marsucci, der „Signore aus dem Calabrischen“, trat bedächtig über die Schwelle; der Cameriere folgte ihm.

„Sagt an, guter Freund,“ wandte sich Marsucci zum Kellner, „man ist doch vollständig ungestört in der Stube hier? Mein Verwandter, der das Zimmer bestellte, hat dem Wirth bereits angedeutet, daß es ernste Geschäfte gilt – Familiengeheimnisse, die man gerne für sich behält.“ ...

Er machte bei diesen Worten eine Geberde in der Richtung der Seitenthür, die zum Weißzeuggelaß führte.

„O,“ versetzte der junge Mensch, „was das betrifft, da kann der Signore durchaus unbesorgt sein. Die Kammer daneben ist unbewohnt und den ganzen Tag über verschlossen. Nur in der Frühe kommt die Cameriera hinein. Na, und da drüben links da liegt ja die Vollwand, die läßt keinen Schall hindurch; auch ist die Signora, die dort logirt, vor einer Stunde schon ausgegangen, und erst zu Abend kommt sie nach Hause.“

„Gut, gut,“ sagte Marsucci. „Man orientirt sich doch gern. So, nun geht! Wenn ich etwas bedarf, werde ich die Klingel ziehen.“

Der Kellner entfernte sich. Marsucci aber schritt nach dem purpurgeblümten Sopha, das, die Seitenthür verstellend, gerade unter dem Wandfenster stand, setzte sich und wartete auf sein Opfer.

Maria preßte ihr Antlitz wider die Glasscheibe, aber ihr Blick vermochte den vermeintlichen Cardinal, der sich hier als „Signore aus dem Calabrischen“ einführte, trotz aller Anstrengung nicht zu erreichen.

Von Zeit zu Zeit holte Marsucci tief und geräuschvoll Athem, wie ein Mensch, der eine lästige Obliegenheit vor sich hat. Nach einer Weile rauschte etwas zu Boden: der Mantel, den er über die Lehne des Sophas gelegt, war herabgeglitten. Maria hätte ihn also jetzt ganz und voll überschauen können, den „Monsignore“, und noch dazu in der Zwanglosigkeit des Heroen, der sich unbeobachtet glaubt! Welche Tücke des Zufalls, daß er just hier den Platz unter dem Fenster gewählt, während doch drüben, wo eine lange, schmale Thür nach dem kleinen Altane ging, ein mächtiger Sessel stand, der wie geschaffen schien für eine Persönlichkeit von dem gebietenden Rang Seiner Eminenz!

Ihr Verdruß währte nur kurze Zeit. Nach fünf Minuten schon klopfte es. Marsucci erhob sich. Mit ehrfurchtsvollem Beben gewahrte sie, daß er in der That die glänzende Gewandung des hohen kirchlichen Amtes trug, vor welchem, nach ihrer Meinung, alle Insignien weltlicher Hoheit in’s Bedeutungslose zusammenschrumpften. Pochenden Herzens schlug sie ein Kreuz ...

Marsucci öffnete. Emmanuele Nacosta und Salvatore Padovanino traten langsam über die Schwelle.

Das Gemach, nur durch die gardinenverhangne Altanthür erhellt, war düster genug, um der schändlichen Maskerade ausreichende Chance zu bieten. Des Abends bei Kerzenbeleuchtung hätte der fragwürdige Cardinal ein ungleich schwereres Spiel gehabt.

Uebrigens war nicht zu leugnen, daß Beide, Marsucci sowohl wie Nacosta, ihre Rollen mit einer Gewandtheit durchführten, wie sie nur dem beweglichen und phantasiereichen Südländer eigen ist.

Schier zu Boden gedrückt durch die Last einer theatralischen Devotion, verneigte sich der Polizei-Aspirant vor seinem Spießgesellen, als erblicke er am Hochaltare das Venerabile. Marsucci seinerseits copirte die wohlwollende Herablassung, die segenspendende Milde des Kirchenfürsten ein wenig plump, aber doch bis in’s Einzelne glaubhaft – dergestalt, daß der Apulier, der so wie so vor Erregung kaum athmen konnte, ganz von jenen heiligen Schauern erfüllt ward, die Nacosta vorausgesetzt hatte.

Auch Maria ward mit jeder Secunde mehr in Fesseln geschlagen.

Die Art und Weise, wie der Gaukler das farbenprächtige Kleid rauschen und wallen ließ; das Weihevolle seiner Bewegungen, und dann der gewaltige Eindruck, den er auf Salvatore hervorbrachte – dies Alles wirkte auf das junge Mädchen berauschend. Und jetzt nahm er wirklich auf jenem alterthümlichen Sessel Platz, sodaß es nicht anders aussah, als erblicke man den Statthalter Gottes auf dem geweihten Sitz des Apostels ...!

„Mein Sohn,“ begann Marsucci, die Stimme dämpfend, „es ist ein großes, ein gewaltiges Werk, dessen Durchführung wir beschlossen haben, und dankerfüllten Herzens erkenne ich den opferwilligen Muth an, der Deine Seele erfüllt! Nur weil ich in väterlichem Wohlgefallen auf Dich herabschaue, weil Du mir lieb und theuer bist, nur deshalb, mein Sohn, habe ich den Bitten unsres gemeinsamen Freundes hier nachgegeben und Dir eine Begegunng gewährt, die eigentlich überflüssig erscheint. Ungläubiger Thomas, wähnst Du, der Zweifel erhöhe die Verdienstlichkeit Deines Vorhabens? Wahrlich, Salvatore, ich sage Dir: Wer da nicht siehet und doch glaubet, der wird die Krone des Lebens erwerben!“

Diese pomphafte Ansprache klang in ihrer Art so natürlich, daß der Apulier sich bereits schämte, einem so wohlwollenden Herrn gegenüber Zweifel gehegt und Bedingungen gestellt zu haben. In der Exaltation seines Herzens bedachte er nicht, daß es ja Nacosta gewesen, dem er auf Anrathen der Zingarella mißtraut hatte.

Der falsche Monsignore De Fabris begann jetzt eine Erörterung über den altehrwürdigen Begriff des frommen Betruges, über die sittliche Berechtigung derjenigen Täuschungen, die für Einzelne oder für die Gesammtheit von Nutzen seien , ohne die Interessen Andrer zu verletzen. Der pfiffige Komödiant bethätigte dabei eine so schlagende Casuistik und einen so schlau erkünstelten Schein orthodoxer Gelehrsamkeit, daß Leute von größrer Erfahrung sich hätten bethören lassen.

Auf eine schüchterne Anfrage Emmanuele Nacosta’s entwickelte nun Marsucci – immer mit der gleichen halb geistlichen, halb diplomatischen Vornehmheit – die Einzelheiten des Planes, wie er sie sich vorgestellt habe. Auch was dann später erfolgen solle, wenn die erhoffte Wirkung auf die politische Situation der Stadt und des Landes erreicht sei, legte er fast mit den nämlichen Worten dar, die seiner Zeit Emmanuele Nacosta gebrancht hatte.

Nur den Tag und die Stunde der Ausführung konnte er nicht mit Genauigkeit festsetzen, obgleich der Apulier gerade in dieser Hinsicht eine bestimmte Auskunft erwartet hatte; denn lediglich von dem Willen des Cardinals hing es doch ab, um welche Zeit er eine bestimmte Stelle Neapels passiren wollte.

Hätte sich Salvatore nicht in einem völlig abnormen Zustande des Gemüths befunden, – dieser Mangel in der Rolle Marsucci’s wäre ihm aufgefallen.

So aber nahm er ebenso wenig Anstoß daran, wie Maria, deren Begeistrung noch immer zu wachsen schien. – Welch ein Mann, dieser Monsignore De Fabris! Wie hehr und wie heilig! Dazu dies milde, freundliche Antlitz und die sympathische Art, wie er beim Sprechen das rechte Auge ein wenig zusammendrückte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_327.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2023)