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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Salvatore.

Napoletanisches Sittenbild.0 Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


2.

Oberhalb der sogenannten Marina Piccola, mit dem Ausblick nach Süden, lag völlig vereinsamt die steingemauerte Hütte Alberto Petagna’s.

Der Insasse – der Sohn jenes gesprächigen Silvio – war mit seinen drei- oder vierundzwanzig Jahren ein Sonderling. Er hauste hier ganz allein, und fuhr auf eigene Faust in die offne See. Nur wenn die Fahrt sich besonders weit von der Küste entfernte, begleitete ihn wohl ein Knabe, der sich bald hier, bald dort auf der Insel herumtrieb und von Zeit zu Zeit bei Alberto anfragte.

Neben dem Fischerkahn besaß Alberto eine zierliche Barke, die in den Nachmittagsstunden ab und zu von den Fremden benutzt wurde; denn das Gestade ist hier auf der Südseite besonders reich an großartigen Naturschönheiten.

Nach dem Städtchen jenseits des Bergrückens kam Alberto fast nur des Sonntags, wenn er im kurzen Wams, den breitkrämpigen Filzhut über der Stirn, zur Messe ging. Dann verweilte er bis zum Abend, brachte die Mittagsstunden im Hause des Vaters, die späteren auf einem der Plätze zu, wo die jüngeren Leute sich am Spiel der Morra ergötztem und genoß wohl in der Osteria zum Falken ein Glas Vesuvwein. Geflissentlich aber mied er die Gesellschaft der jungen Mädchen; er sah nicht zu, wenn zum Klange des Tambourins der Reigen getanzt wurde, – geschweige denn, daß er selbst sich jemals betheiligt hätte. Nur seine Cousine, die dunkelzöpfige Zingarella, traf er zuweilen im Elternhause, bis das Verhältniß Maria’s zu dem apulischen Schreiber hier eine Aendrung hervorbrachte, indem es zwischen ihr und dem greisen Silvio eine immer wachsende Spannung hervorrief.

An jenem Nachmittag saß Alberto vor der Thür und las. Gleich den meisten capresischen Fischern war auch er, wie die Statistik es ausdrückt, alphabetlos aufgewachsen; aber seit Zingarella den Unterricht jenes Fremdlings genossen hatte, ließ es ihm keine Ruhe mehr. Voll verzehrender Neugier hatte er die Bücher bestaunt, die Maria einst in das Haus seines Vaters gebracht, um daraus vorzulesen und dem Zweifler so zu beweisen, daß nichts Unrechtes und Sündhaftes in denselben enthalten sei. Und da nun Alberto sie darum anging, brachte sie eins dieser Bücher auch am folgenden Sonntage mit, und so fort, und Alberto fragte sie, wie zum Spiele, nach der Bedeutung der einzelnen Lettern, die er bald unterscheiden lernte, ohne daß sie sich träumen ließ, die Belehrung werde ihm haften bleiben. Und dann geschah es, daß er insgeheim dem Steuermanne des Marktschiffs den Auftrag ertheilte, ihm ein ähnliches Buch aus Neapel mitzubringen, und späterhin andre, bis der alphabetlose Fischer fließend las und den Inhalt dieser Bücher begriff und sich nun ernstlich mit dem großen Gedanken trug, auch die Kunst des Schreibens zu lernen.

Das Buch, das er jetzt mit beiden Händen gepackt hielt, als gelänge es ihm so besser, das Alles, was er hier fand, in sich aufzunehmen, war ein classisches Werk, weit berühmt im liederfrohen Italien: die Sonette des liebeskranken Petrarca.

Für ein Geringes hatte der Steuermann das fleckige, umschlag-entblößte und verstümmelte Exemplar bei einem der Straßen-Buchhändler in der Molo-Straße gekauft, ohne sich vorzustellen, wie wenig diese schmelzenden Klänge gerade jetzt in die Gemüthsverfassung Albertos paßten.

So oft das Wort „Laura“ in den Sonetten wiederkehrte, las Alberto mit heimlicher Gluth „Maria“; denn er liebte seine Cousine, so lange er denken konnte.

Schon als elfjähriger Knabe, da sie, sechs oder sieben Jahre alt, an seiner Hand nach Anacapri gewandert, um dort die Großmutter zu besuchen, die nun seit lange schon todt war, hatte er die Blicke nicht wegwenden können von dem reizenden, sonnverbrannten Gesichtchen, von den nachtschwarzen Augen, die so trotzig rings in die Welt schauten, und den prächtigen Zöpfen, die ihr so breit und schwer über das rothe Kleidchen mit dem citronenfarbenen Bund fielen.

Wenn sie dann müde war oder der Bergpfad sich gar zu steinig und schroff nach der Höhe wand, wie glückselig hatte er sie mit beiden Armen umklammert und hinaufgetragen bis zur nächsten Terrasse, wo sie im Schatten eines großblätterigen Feigenbaums ruhen und plaudern konnten!

Die Kleine war launisch und übermüthig; oft zerzauste sie ihm das Haar; oft schalt sie ihn, wo er freundlichen Dank erwartet hatte; ja einmal, als er in gutem Glauben ihr eine Frucht bot, die ihr nicht mundete, schlug sie ihm mit der kleinen Hand in’s Gesicht, mitten auf’s Auge, daß ihm das helle Feuer heraussprang. Und dennoch: er konnte nicht zürnen; ihr Uebermuth, ja selbst ihre Unart beglückte ihn. Sie war doch da, sie saß neben ihm; er hörte die klare, tiefe Stimme, fast zu tief für ein siebenjähriges Mädchen, aber so zauberisch, so unsagbar berückend!


Dann später, als sie heranwuchs und immer schöner ward, so schön, daß ihr Anblick ihn fast mit bangender Scheu erfüllte – wie verzehrte er sich in quälenden Widersprüchen! Denn – sagte er sich – je vollkommner sie ist, um so weniger wird sie Acht haben auf Dich und Deine heimliche Liebe. – Er hätte, Gott weiß was, darum gegeben, wenn er irgend etwas hätte entdecken können, was ihren Liebreiz verringerte, – eine Narbe vielleicht, wie er sie links auf der Stirn trug als Erinnerung an den ersten Ritterdienst, den er dem Mädchen geleistet, da es sich nämlich um die Abwehr eines zudringlichen Napoletaners handelte; oder ein Muttermal; oder selbst Schlimmeres; denn er meinte, er würde sie lieben, und wenn ihr ein Felsstück von der Höhe des Salto herab beide Füße zerschmetterte, oder die schrecklichste Krankheit ihr das Antlitz für immer zerrisse! Die Augen würden doch bleiben, und die Stimme, die er vergötterte, die er nicht hören konnte, ohne ergriffen zu werden, wie vom Klange der Orgel! Dann schält er sich wieder, daß er so gottlose Thorheiten denke, und suchte sich einzureden, trotz ihrer Schönheit und trotz der Bewunderung, die ihr allenthalben zu Theil wurde, möchte Maria wohl die Ehrlichkeit seiner Gesinnungen und die Unermeßlichkeit seiner Hingebung höher schätzen, als die kecke Beweglichkeit Derer, die sie mit lockenden Schmeichelworten tagtäglich umschwärmten. Er konnte nicht schmeicheln; er war froh, wenn er in ihrer Gegenwart überhaupt nur ein vernünftiges Wort über die Lippeu brachte. Als er nun eines Tages dazu kam, wie sie drunteu am Ufer im Schatten der altersgrauen Olivenbäume mit dem hübschesten Burschen von Capri, dem hochgewachsenen Masetto, sich im Wirbel der Tarantella schwang, da gelobte er sich, die Stätten, wo die Jünglinge und Mädchen mit einander verkehrten, nie wieder aufzusuchen. Der Anblick hatte ihm tief in das Herz geschnitten.

Von jenem Tage an trug er sich mit dem Plane, das Haus des Vaters, sobald es anginge, zu verlassen und sich jenseits des Bergrückens eine Art von Einsiedelet zu gründen.

Schon im folgenden Herbst führte er diesen Plan aus. Der Pfarrer, ein leutseliger, freundlicher Herr, der ihm besonders wohlwollte, streckte ihm gern die geringe Summe vor, die zur Erbauung der dürftigen Steinhütte nöthig war; auch für das Uebrige fand sich Rath, und so entzog sich denn Alberto mit Gewalt der Nähe des Mädchens, dessen sein Herz so voll war.

Ursprünglich hatte er die Absicht gehegt, sie ganz zu meiden, und wochenlang war er ihr aus dem Wege gegangen. Dann aber fühlte er die innere und äußere Unmöglichkeit, das auf die Dauer so durchzuführen. In dieser völligen Trennung fand er nicht Ruhe; die Sehnsucht verzehrte ihn; überdies hatte er Pflichten gegen den Vater, dessen einziger Sohn er war, nachdem die beiden älteren Brüder an den Klippen der Punta di Campanella den Tod gefunden.

So ergab sich nachgerade die Lebensführung, die er noch jetzt befolgte: die Woche hindurch blieb er für sich; des Sonntags weilte er bis zum Abend im Städtchen.

Für den Silvio war es ein Freudenfest, wenn sein Alberto herüberkam; denn ihm selbst war der steile Pfad über den Bergrücken zu beschwerlich, und seine Zeit war beschränkt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_246.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)