Seite:Die Gartenlaube (1884) 159.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


„Fräulein Annie Cramm hoch! Und zum dritten Male hoch!“ scholl es von so und so viel animirten Stimmen.

„Und ein Hoch allen schönen Frauen!“ rief der Rittmeister von P., und wieder stießen die Gläser an einander.

Moritz erhob sich plötzlich. Es war ihm nicht möglich, noch länger hier zu bleiben, in diesem Tumult, bei seiner Stimmung.

„Sie wollen fort?“ fragte der Bennewitzer. „So komme ich mit, wenn Sie gestatten.“

„Sie logiren hier im Hôtel?“ erkundigte sich Moritz auf dem Flur, während noch immer begeisterte Hochrufe aus dem Saale herüberschallten.

„Ja! Aber ich begleite Sie noch, Ratenow.“

Es war nun ganz still auf den Straßen, nur der Mondschein lag über der Stadt, und ein feiner leichter Nebel hing wie ein silberner Schleier an den Dächern und umspann feenhaft die Umrisse der Häuser und Bäume. Sie gingen stumm neben einander her; bei Beiden wollte sich das rechte Wort nicht finden zum Beginne eines Gespräches.

„Mein lieber Ratenow,“ sagte endlich der Aeltere, „ich möchte nicht gern, daß Sie, gerade Sie, mich falsch beurtheilten. Sie sahen mich vorhin so merkwürdig an. Ich bin weder eitel genug um zu glauben, ein so junges Mädchen, wie Else von Hegebach, werde mit Wonne in meine geöffneten Arme sinken, noch bin ich in dem Alter, wo Einen die Erwartung des entscheidenden Wortes von ein paar rothen Lippen ruhelos umher jagt und man für den Fall, daß sie etwa abschläglich lauten könnten, mit Wollust an einen Selbstmord zu denken pflegt. Ich habe dazu viel zu traurige schwere Schicksalsschläge ertragen müssen. Die Gründe, die mich leiteten, um meine Nichte zu werben, sind nur zur Hälfte egoistischer Natur; mich drängte im Großen und Ganzen das Bestreben, meinen Vetter und sein Kind theilnehmen zu lassen an der Hinterlassenschaft unseres Onkels, und dies ist die einzige Art und Weise, wie es gesetzlich geschehen kann. Aber –“ er blieb stehen und legte die Hand auf die Schulter seines Begleiters, „ich füge hinzu, daß ich diesen Plan nicht gefaßt haben würde, wäre das junge Mädchen mir nicht in hohem Grade sympathisch, ich sage: sympathisch, lieber Ratenow; in meinen Jahren spricht man nicht mehr von Leidenschaften.“

Sie schritten wieder vorwärts. Moritz war stumm geblieben: er wußte ja genau, daß der Mann dort die Wahrheit sprach; er wußte, daß er die Wahl unter Vielen hatte, er war noch immer ein stattlicher Cavalier; er war ein Mann, der ein edles großes Herz besaß, er durfte noch Anspruch machen auf ein Glück, und dennoch –.

„Ich habe es mir in den letzten Wochen beständig ausgemalt, wie es sein wird, Ratenow,“ fuhr der Bennewitzer fort mit warmem Klang der Stimme; „ich habe Else’s Gestalt durch meine einsamen Gemächer schreiten sehen und habe ihre Stimme so glückverheißend an mein Ohr tönen gehört; ich bin hinaufgestiegen in die Zimmer, die ich für meinen Vetter bestimmt habe, und ich rechnete die Reiseroute aus, um den staunenden Kinderaugen die Welt jenseits der Alpen zu zeigen. Weiß Gott, Ratenow, es würde mir eine unsagbare Freude sein, diese junge Seele einzuführen in die tausend Schönheiten, mit denen Natur und Menschenhand die Welt geschmückt haben, und –“

Er stockte.

„Mit meinem ältesten Jungen hin ich einmal gereist über den Schwarzwald in die Schweiz, und ich werde nie die Freude vergessen, die mir das ungeheuchelte Entzücken, dieses naive Staunen der jungen Menschenseele verursachte; ich möcht’s wohl noch einmal sehen – –. Ratenow,“ fragte er plotzlich, „kommt da nicht Jemand?“

Sie standen am Eingange der Allee; die dunklen Stämme hoben sich scharf ab im Mondenlichte, und in dem leichten Nebel bewegte sich allerdings, rasch, fast laufend, eine Gestalt ihnen entgegen.

„Es ist eine Frau,“ sagte Moritz, „es ist Else!“ fügte er nach einer halben Minute hinzu. „Else, um Gotteswillen, Else, wo willst Du hin? Wie siehst Du aus?“

Sie hing plötzlich an seinem Halse; er fühlte das Zittern und Beben ihres Körpers.

„Moritz, zum Vater! Bringe mich zum Vater!“

„Was ist geschehen, Else? Rede doch!“

Er löste die Arme von seinem Nacken und schaute in ihr todtenbleiches Gesicht.

„Krank!“ sagte sie mit bebenden Lippen; „die Siethmann kam, sie wollte mich rufen, da bin ich fortgelaufen – bring’ mich hin, Moritz!“

Er zog ihren zitternden Arm in den seinen. „Komm, mein Deern.“

„Ich gehe mit,“ sagte der Bennewitzer. „Ist schon ein Arzt geholt? Wissen Sie es nicht, Else?“

Sie schüttelte den Kopf und lief voran, die Männer hatten Mühe ihr zu folgen. Sie war ohne Hut und Mantel, und in dem ungewissen Lichte hatte es etwas Unheimliches, wie sie so dahin stürmte. Sie war schon die Treppe hinauf, als die Herren eben in die Hausthür traten. Auf dem dämmerigen Flur oben kam ihnen der Arzt entgegen.

„Treten Sie ein, meine Herren,“ bat er leise; „ich habe nach der Tochter geschickt – er wird den Morgen nicht erleben.“

Sie standen in dem kleinen unwohnlichen Gemach neben dem des alten Mannes, der Mondschein fiel voll herein und lag als breiter weißer Streifen auf den Dielen, und darin zitterte der Schatten der jung belaubten Zweige vor den Fenstern draußen. „Tick tack, tick tack,“ sagte die alte Schwarzwälder, und durch die halb geöffnete Thür des Nebenzimmers drangen Laute wie ein qualvolles Stöhnen.

„Papa!“ schrie dann eine Stimme auf, „geh doch nicht fort von mir, laß mich nicht so allein, so furchtbar allein!“

Der Arzt that rasch einen Schritt auf die Thür zu, dann blieb er wieder stehen – der Sterbende sprach langsam, stockend, fast abgerissen unverständlich.

„Nein, nein, Papa, stirb nicht, stirb nicht! Ich muß Dir noch etwas sagen, lieber Papa! Höre mich doch – kannst Du mich noch hören?“

Der Arzt ging hinein. Nach einem Augenblick kam er wieder zurück und winkte dem Bennewitzer. Er trat ein und seine Augen suchten das Mädchen. Sie lag vor dem Lehnstuhl, in dem der Vater ruhte, und hielt seine Kniee umklammert, die rechte Hand des alten Mannes lag auf ihrem Kopfe, seine halberloschenen Augen waren dem Eintretenden zugewandt.

„’s ist rasch gekommen, Vetter, aber ich bin viel – ruhiger, wie sonst, weil – Else, Deine Hand! Ich habe nichts gethan für Dich im Leben, armes Kind, vergieb mir, und Du warst immer gut und gehorsam, vergieb mir, Else, mache es mir leicht, das Sterben – es war so schwer – das Leben.“

Sie hob den Kopf und sah, wie um Erbarmen flehend, umher, aber die müden Augen erfaßten den Blick nicht mehr, verstanden nicht, was sie wollte. Sie fühlte nur, wie mühsam seine Hand nach der ihren tastete und, als er sie erfaßte, den matten Versuch machte, sie zu erheben und hinüberzuziehen, um sie in eine andere Hand zu legen. Die völlige heilige Majestät des Todes überschauerte sie plötzlich bei dem Anblick der furchtbar veränderten Züge, willenlos gab sie sich hin unter den Einfluß, dann fühlte sie, wie eine warme Männerhand die ihre umschloß, und wie die Rechte des Sterbenden kraftlos auf beiden ruhte.

„Wilhelm, lieber Wilhelm,“ sagte eine bewegte Männerstimme, „ich will sie schützen und schirmen – das verspreche ich Dir!“

„Else!“ flüsterte der Sterbende, „Du bleibst nicht allein! Kein – armes – verlassenes Mädchen - nein, Else –“

Sie lag wie kraftlos da, den Kopf auf seinem Knie, die Hand noch immer in der des Bennewitzers; es war, als woge ihr ein blutrother Nebel vor den Augen, und sie vermochte nicht mehr klar zu denken. Dann hörte sie Moritzens Stimme noch einmal: „Es ist vorbei, komm Else, meine alte Deern!“ und sie fühlte, wie man sie emporhob, und dann nichts mehr.

Als sie erwachte, saß Frau von Ratenow vor dem Sopha, auf das man sie gebettet; die alte Dame im Morgenkleide und Haube hatte den Kopf gegen die Lehne gestützt und schlief. Durch die Fenster brachen glühendroth die Strahlen der aufgehenden Sonne und überhauchten das kleine Zimmer mit einem verschönernden Glanz.

(Fortsetzung folgt.)




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_159.jpg&oldid=- (Version vom 9.10.2020)