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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Sie erhob sich und suchte nach Hut und Mantel. „Schlaf wohl, Papa; wenn ich Zeit habe, komme ich bald wieder. Ich fange morgen den Unterricht an, Papa.“

Wieder ging sie durch die finstere, schmutzige Straße; sonst hatte sie sich immer gefürchtet um diese Zeit, heute dachte sie nicht daran. Der Wind hatte sich aufgemacht und sauste durch die lange Allee, und der feine Regen drang durch den Schleier und kühlte Wangen und Augen.

Sie schritt so langsam, als wäre es ein Maiabend. Dort unten bog plötzlich ein Wagen aus dem Thor der Burg und fuhr in raschem Tempo an ihr vorüber – es war des Bennewitzers Fuhrwerk. Er hatte also jedenfalls Tante Ratenow einen Besuch gemacht; vielleicht um in ihr die Verbündete zu finden.

„Könnt’ ich nur sterben, so wäre mir wohl,“ klang es ihr durch den Sinn. Sie mußte hinein in das Haus, und sie wäre doch am liebsten fortgelaufen, so weit ihre Füße sie tragen wollten.

„Fräulein, Sie möchten gleich zur alten Frau von Ratenow kommen,“ sagte der Diener im Hausflur. Sie gab Hut und Mantel ab und ging hinein.

Frau von Ratenow saß auf dem Sopha; eine Flasche mit zwei Gläsern stand auf dem Tisch und der Duft einer feinen Cigarre schwebte noch in der Luft. „Wie geht es Deinem Vater?“ fragte sie und winkte dem Mädchen, sich zu setzen.

„Ich danke, es ging so leidlich, Tante.“

„Du siehst blaß aus; das macht das Tanzen, Else.“

„Ja, Tante.“

„Sieh mal, dort kommt das Blondmäuschen,“ sagte die alte Dame und lachte dem zierlichen Mädchen zu, das eben feierlich und mit einem Ausdruck von Wichtigkeit durch das Zimmer auf Else zuschritt. „Von der Großmama, Tante!“ flüsterte es und legte dem jungen Mädchen einen kleinen schweren Gegenstand in den Schooß, um dann eilig wieder in sein Versteck zu laufen. Es war ein schlichter schwarzer Emailreifen, den Else in der Hand hielt.

„Du bist so gut, liebe Tante,“ sagte sie, und blickte sie an mit den schönen braunen Augen; es waren keine Kinderaugen mehr seit heute früh; und sie küßte die dargebotene Hand. „Ich werde es zum Andenken an Dich tragen.“

„Ich wollte Dich bitten darum, Else. Und nun geh. – Der Bennewitzer läßt sich Dir übrigens empfehlen.“

In ihrem Stübchen legte sie hastig den Reifen hin; sie wollte kein Mitleid, sie könnte es nicht ertragen, meinte sie. Als ob ein bischen Tand und Schmuck ihr das Herzeleid und die aufschreiende Sehnsucht nehmen könnte! Sie wäre gern allein gewesen, aber dann würden sie denken, sie weine um ihn, und sie wollte doch nicht eine Thräne vergießen, darum nicht eine.

Aber es ging doch nicht! Ein süßer Duft hauchte sie plötzlich an, ein Duft, der noch gestern berauschend um sie geschwebt. Dort standen die Veilchen, seine Veilchen, und es war, als sprächen sie mit seiner Stimme: „Das Glück – ist dieser Augenblick nicht das Glück?“ Sie schluchzte plötzlich laut auf, es klang wie ein Schmerzensschrei, und im nächsten Augenblick öffnete sich die Stubenthür und Tante Lott hielt das bebende Mädchen im Arm.

Tante Lott wußte ja Alles, sie durfte auch sehen, daß ihr Herz zerrissen war, ganz zerrissen.

(Fortsetzung folgt.)

Das Schicksal einer deutschen Fahne.

Erinnerung aus unserem „letzten Krieg um den Rhein“.


Der „letzte Krieg um den Rhein“, der deutsche Feldzug von 1870 und 1871 in Frankreich, steht unter den großen Völkerkämpfen einzig da in der Weltgeschichte. Selbst vieljährige Kriege alter wie neuer Zeit vermögen für Eroberungen, Schlachten und Gefechte, Gefangene und Trophäen an Waffen und Fahnen einer Macht nicht stärkere Zahlen aufzustellen, als dieser Krieg von nur halbjähriger Dauer in Deutschlands Ehrentafel einzugraben hatte. Man muß sich die Zahlen immer und immer wieder vor Augen halten, um es zu glauben, welch Ungeheures wir alle vor dreizehn und vierzehn Jahren erlebt haben; in den 180 Tagen des eigentlichen Krieges wurden 20 große Schlachten geschlagen, über 150 Gefechte geliefert, 26 feste Plätze erobert, 11,860 feindliche Officiere und 371,981 Unterofficiere und Gemeine in Gefangenschaft geführt, 7441 Kanonen, 855,000 Gewehre und Hunderttausende von anderen Waffen erbeutet und 107 Fahnen und Adler als Siegeszeichen dem Feinde abgenommen. Dabei ist nicht zu vergessen, daß durch die Uebergabe von Paris und durch die Flucht der Franzosen in die Schweiz noch 9648 Officiere und 330,000 Soldaten Frankreichs unschädlich gemacht worden waren. Die Deutschen hatten nur in wenigen Gefechten sich zurückzuziehen, von ihren 8 verlorenen Kanonen nahmen sie die beiden bei Coulmiers stehen gebliebenen in Orleans wieder, und die einzige deutsche Fahne, die im ganzen Kriege in Feindes Hände fiel, ging unter Umständen verloren, welche diesen Verlust zu einer der denkwürdigsten militärischen Ehren erheben.

Als das Jahr Siebenzig zu Ende ging und von den Armeen, welche Gambetta’s Feuergeist „aus der Erde gestampft“, keine seine oberste Hoffnung: die Entsetzung voll Paris, zu erfüllen vermocht, entsprang dem Kopfe dieses kühnen Advocaten ein neuer Feldzugsplan, dessen Gelingen Deutschland in unabsehbare Gefahren gestürzt haben würde. Eine aus vier neuen Armeecorps zusammengesetzte, 150,000 Mann starke „Ostarmee“, von dem einzigen kaiserlichen Generale, der aus Metz entkommen war, von Bourbaki, befehligt, sollte das von schwachen Kräften belagerte Belfort entsetzen, durch Elsaß in Süddeutschland einbrechen, in dem wehrlosen Lande rasch vordringen, die Hunderttausende französischer Gefangenen befreien und so von Deutschland aus die Deutschen in Frankreich zwingen, Paris freizugeben, um Deutschland zu retten.

Daß dieser Plan nicht gelang, ist das unsterbliche Verdienst der Heldenführer und Heldenschaaren, die, in furchtbarster Winterkälte, vor sich einen dreifach überlegenen Feind und hinter sich eine feindliche Festung mit starker, gut geführter Besatzung, die dreitägige Schlacht (15. bis 17. Januar 1871) an der Lisaine schlugen, eine dünne, aber eherne Kette bildend, an welcher die letzte französische Armee zerschellte.

„Ihre heldenmüthige siegreiche dreitägige Vertheidigung Ihrer Stellung, eine belagerte Festung im Rücken, ist eine der größten Waffenthaten aller Zeiten,“ – so schrieb am 20. Januar an den General von Werder König Wilhelm, der am 18. – der würdigste Abschluß des letzten großen Sieges! – deutscher Kaiser geworden war.

Während dieser Ereignisse um Belfort und während General von Manteuffel mit einer neu zusammengesetzten „Südarmee“ in Eilmärschen heranzog, um Werder und Treskow (dem Belagerer von Belfort) zu Hülfe zu kommen, war namentlich für die rückwärtigen Verbindungen derselben das Corps Garibaldi’s, das nach Werder’s Abzug gegen Belfort hin sich in Dijon festgesetzt hatte, eine um so drohendere Gefahr für Werder’s wie für Manteuffel’s Unternehmungen, als man über die Stärke desselben nicht genaue Auskunft hatte erlangen können. Diese abenteuerliche Truppe in ihrer so bedenklichen Stellung möglichst unschädlich zu machen, war als schwere Aufgabe dem General von Kettler übertragen und von ihm glänzend gelöst worden.

Nach Angabe des Generalstabswerkes (5. Band, S. 1204) bestand von Kettler’s Brigade aus 51/4 Bataillonen der beiden pommerschen Regimenter Nr. 21 und 61, aus 2 Schwadronen des pommerschen Dragonerregiments Nr. 11 und aus der 5. leichten und 6. schweren Batterie des II. Armeecorps; im Ganzen 4000 Mann Infanterie, 260 Pferde und 12 Geschütze.

Garibaldi, als dessen Generalstabschef ein Nichtsoldat, Dr. Bordone, fungirte, hatte seine Vogesen-Armee in 5 Brigaden eingetheilt, die 1. unter Despeche, die 2. unter dem Italiener Lobbia, die 3. unter Menotti Garibaldi, die 4. unter Ricciotti Garibaldi, die 5. unter dem polnischen Grafen Bossak-Hauke, jede ungefähr 3000 Mann stark. Dazu kamen 5 schwache Escadrons Chasseurs à cheval, 3 Batterien à 6 Geschütze und eine Anzahl Franctireur-Corps, welche keinem Brigadeverbande angehörten: die Franctireurs de la mort, die Compagnie de la revanche,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_110.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)