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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Er ging ohne ein Wort meiter an dem Cameraden vorüber und trat zu Else, die noch immer das Geplauder der Kinder anhörte; das Buch hatte sie auf den Tisch gelegt, sie war schon wieder mitten in ihren glückseligen Gedanken.

„Ich habe die Ehre dieses Tanzes, gnädiges Fräulein,“ sagte der junge Officier, und mit einigen Scherzworten führte er sie in den Saal.

Bernardi war in peinlichster Stimmung zurückgeblieben; er drängte sich mit finsterer Miene durch die folgenden Zimmer in die Halle nach und blieb in der .Thür stehen, just neben Moritz. Wahrhaftig, der sonst so liebenswürdige Mann benahm sich auffallend kühl gegen ihn. Soweit war es also doch, daß die Spatzen auf dem Dache davon erzählten! Er grübelte, den Schnurrbart streichend, über seine ganze Verwandtschaft nach – Rost hatte Recht, eine Erbtante oder ein -Onkel war nicht vorhanden.

„Oho, mein Herr Oberst!“ schlug plötzlich Frau von Ratenow’s Stimme an sein Ohr, „das ist Ansichtssache.“ – Es war so laut und drohend gesprochen.

Er wandte sich um und sah in das Zimmer des Hausherrn hinein. Die alte Dame in ihrer schweren seidenen Robe saß dem Regimentscommandeur am nächsten Whisttische gegenüber, sie gab eifrig Karten, und ihr Gesicht hatte genau den strengen Ausdruck, der ihr eigen war, wenn sie sich zum Streite rüstete, eine ihrer Meinungen zu verfechten.

„Das sind Ansichten,“ wiederholte sie, „meine sind es nicht! Ich habe denn doch schon zu viel Unglück aus dieser sogenannten Anständigkeit entspringen sehen – ich will Ihnen gleich ein Beispiel erzählen.“

Sie war fertig mit dem Geben der Blätter und legte ihre gefalteten Hände auf die Karten. Bernardi schien es plötzlich, als spreche sie jetzt nur deshalb so laut, weil sie ihn eben dort an der Thür erblickt hatte. Unwillkürlich nahm er eine aufmerksame Haltung an.

„Sie war meine Freundin, Herr Oberst; Sie haben sicher den Major von Welsleben gekannt und seine Frau? Na, sehen Sie, die hatten sich kennen und lieben gelernt, als sie, verzeihen Sie – Beide noch nicht recht trocken waren hinter den Ohren. In den Jahren denkt man nicht an die Prosa des Lebens, wollen Sie sagen, Herr Oberst? Gut, dann soll man die jungen Leute aufmerksam machen, daß es ihre Pflicht und Schuldigkeit ist, aus ihren Mondscheinidyllen von ‚Ein Herz und eine Hütte‘ aufzuwachen, sich im wirklichen Leben umzusehen und zu erkennen, daß man von Liebe und Rosenduft nicht allein existirt. Nun, sie verlobten sich, es ward ein endloser Brautstand, er ein verdrießlicher Mann, sie ein nervöses Mädchen, bis der Prediger schließlich elne traurige Ehe einsegnete. – Jetzt kommt’s, Herr Oberst! Sehen Sie, Sie behaupteten vorhin, der natürliche Anstand würde ihn dazu gezwungen haben, sich mit dem Mädchen zu verloben, da er ihr so offen gezeigt, daß er sie liebe? Ein verkehrter Anstand, mein Herr! – Mein alter Jochen, der zweiunddreißig Jahre in meinem Hause ist, zu den Klügsten gehört er gerade nicht, sagte eines Abends zu mir, als er die Tafel deckte: ‚Gnädige Frau, das Tischtuch will absolut nicht passen; ziehe ich es nach oben, fehlt es unten, schiebe lch es dorthin, guckt oben der Tisch vor; ich quäle mich nun schon eine ganze Stunde mit dem Dings.‘ So ist’s geworden bei Welsleben’s; ihr ganzes Leben lang haben sie das Tischtuch hin und her gezogen, aber gereicht hat es nie. Es kamen Kinder, es wurde immer knapper, es kamen die Anforderungen von allen Ecken und Enden, Freude war längst nicht mehr im Hause, und wenn die Klingel ertönte, dann schrak die Hausfrau ängstlich zusammen, weil sie meinte, es sei wieder eine der ach! so oft schon präsentirten und nie bezahlten Rechnungen. Die Frau borgte sich elend und siech; na, und er fand mehr Geschmack, als ihm gut war, am Wirthshaus. Nun frage ich Sie, mein Herr, wo –“

Bernardi hörte das Letzte nicht mehr; er stand plötzlich vor Frieda und bat sie um eine Extratour. Sie dankte; „Mein lieber Bernardi, erbarmen Sie sich über Fräuleln Cramm –“. Er machte eine Verbeugung und verließ den Saal.

Else’s braune Augen suchten Etwas. Lieutenant Rost wußte ganz genau, was es war; die Kleine that ihm unsäglich leid, so leid ihm überhaupt etwas thun konnte. Er hätte gern Bernardi ein paar tausend Thälerchen anhexen mögen, damit diese kleinen schmalen Füße auf seinem Lebensweg neben ihm trippeln konnten. „Auf Ehre, sie war reizend!“

Bernardi war indessen mit fast stürmischer Hast in dem großen Gartenweg auf und ab geschritten. „Wenn Du noch zurückkannst,“ – die Worte klangen ihm in den Ohren. Ihm schwindelte, es war ihm, als hätte er den, der dies gesprochen, erwürgen mögen. Aber freilich, sie hatten Alle Recht, und das war eben das Teuflische. Ob er noch zurücktreten konnte ohne einen Eclat? Ja, er brach noch nicht sein Wort, kein ausgesprochenes Wort – in einer Stunde vielleicht wäre es gesagt gewesen. Und dennoch, tausendmal hatte sie es in seinen Augen lesen müssen, wie er es in ihren klaren braunen Kinderaugen gelesen, daß sie sich herzinnig gut einander.

Freilich, welche Aussichten! Die Schilderung der alten Dame war so entsetzlich trostlos, so furchtbar wahr, eine elende Perspective! – Er strich sich die Haare aus der Stirn; eine Melodie war ihm plötzlich eingefallen, einfache Worte:

„Es braust durch die Lande der herbstliche Wind,
Untreu ward der Liebste mir armen Kind!“

und er sah wieder das Bild, das er vorhin gesehen, und das weinende Mädchen nahm Else von Hegebach’s Gestalt an.

Nein, er konnte doch nicht mehr zurück, und er wollte nicht mehr zurück, er hätte nicht leben können, wenn Else von Hegebach ihn für einen Wortbrüchigen, für einen Elenden ansehen mußte. Er hatte ihre Hand in der seinen gehalten in der vollen Seligkeit des Augenblicks, und er dachte zu heilig von der Liebe, zu hoch von den Frauen – es mußte einen Ausweg geben, schlimmsten Falls nahm er den Abschied. Er ging plötzlich mit großen raschen Schritten zurück in das Haus und durch den Saal in das Spielzimmer.

„Gnädige Frau,“ er machte eine Verbeugung vor der alten Frau von Ratenow, „darf ich Sie um eine kurze Unterredung bitten?“. Er sprach leise und sah ruhig in das kluge Antlitz, das sich erstaunt zu ihm wandte.

Sie antwortete nicht gleich, aber sie legte die Karten hin. „Gehen Sie hinüber in mein Wohnzimmer, ich komme nach,“ erwiderte sie ebenso leise. Es war gut, daß die Andern sich so laut unterhielten und daß die Musik eben wieder einsetzte.

Frau von Ratenow sah ihm nach, wie er eben durch die Portieren verschwand. „Da haben wir’s,“ sagte sie zu sich. – „Bester Herr Gerichtsrath, übernehmen Sie für ein Viertelstündchen meine Karten? So! Ich danke Ihnen!“ Und sie folgte, den Weg durch den Tanzsaal wählend, dem jungen Officier in ihr Zimmer. Es war nur durch eine rasch angezündete Kerze erhellt und aus dieser Dämmerung schaute ein ernstes blasses Gesicht zu ihr herüber.

„Nun, lieber Bernardi?“

„Gnädigste Frau, Sie sprachen vorhin ein hartes Urtheil über – das –“, er stockte.

„Ich weiß schon, was Sie meinen,“ nickte sie, „Sie wollen mich doch nicht etwa zu einem Widerruf zwingen?“

Das klang wie scherzend, aber ihre Augen blickten ernsthaft, fast strenge.

„Gnädigste Frau halten auch keine Ausnahme für möglich?“ fragte er.

„Nein!“ erwiderte sie kurz und setzte sich in den nächsten Stuhl.

„Auch nicht, wenn ein ehrlicher fester Wille sich mit einem Herzen voll echter Liebe verbindet?“

Er sprach tiefbewegt; die alte Dame sah zu ihm empor – fast mitleidig.

„Du lieber Himmel! Das haben sie ja Alle gedacht, und das glauben sie Alle; das ist so eine Honigtopfsrechnung, Bernardi, wie sie Verliebte so gern machen.“

„Ich würde den Abschied einreichen, gnädigste Frau. Es ist ja wahr, unser Stand verlangt soviel nach außen hin; es ist ein jammervolles Loos, das des armen Officiers! Ich würde es nie Else von Hegebach anbieten – ich –“

„Else von Hegebach?“ Frau von Ratenow erhob sich und trat in der rauschenden Seidenrobe auf den jungen Mann zu. „Wenn Sie Else von Hegebach meinen, so sage ich Ihnen, sie ist ein armes Mädchen und sie würde nie gestatten, daß ein Mann ihretwegen seine Carrière aufgiebt, um ein unzufriedenes verfehltes Dasein mit sich herumzuschleppen! Dazu ist sie viel zu bescheiden, mein bester Bernardi; und von Ihnen hege ich die feste Ueberzeugung, daß Sie ehrenhaft genug sind, einen solchen Vorschlag

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_091.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2020)