Seite:Die Gartenlaube (1884) 080.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

ist er so schwach, daß er das Meer kaum erreichen kann. Ein Ort des Todes ist dieses Mündungsland: Blumen, Bäume, Vögel und alle Thiere fliehen es, dem Menschen haucht es Tod in seiner Malaria.

Bei Tarsia, dem wohl elendesten Dorfe Italiens, tritt man in das Val di Crati ein, das gänzlich unbewohnt ist. Kein einziger Ort hat gewagt, von der Höhe auf die Thalsohle herabzusteigen, eine Erscheinung, der man durch ganz Calabrien begegnet. Und die Orte auf den Bergen sind, was wir im Deutschen mit dem Namen „Nester“ bezeichnen: ungeordnete, liederlich zusammengewürfelte Häusergruppen.

Was die einzelnen Häuser jener Ortschaften betrifft, so sind sie fast alle ohne irgend einen architektonischen Reiz, sind plumpe, meist fensterlose Steinklumpen. Eine Mistpfütze steht vor dem Eingange, eine andere hinter dem Ausgange. In dem einzigen Zimmer oder Raume sehen wir rechts den abgetriebenen Esel, der gedankenvoll an seinem Heu nagt, links einen feuerlosen Feuerherd ohne Kessel, in dessen Aschehaufen eine dürre Katze freudelos zusammengekauert liegt. Nach vorn ein Fensterloch ohne Kreuz und Scheiben, auf dessen Sims ein paar ungewaschene Töpfe und Schüsseln stehen, höchstens ein blühender Nelkenstrauß als Zier dabei. Im Hintergrunde das mistduftende Familienstrohlager, unter diesem ein Trog, am Troge ein Schwein in Gesellschaft von ein paar Hähnen, Hennen und Hühnchen.

In jenem armseligen Strohbett über dem Schweintrog und Hühnerkorb wird der Calabrese der arbeitenden Classe, also des Landvolkes geboren, dort liegt er neben Vater und Mutter, bis der zweite Nachfolger das Licht der Welt erblickt, der ihn an den äußersten Rand zu Füßen drängt. Der dritte kommt und – er fällt nun aus dem Bett auf die harte Banklade am Herde. Jetzt steht er vielleicht im sechsten Jahre und ihm wird ein Amt: mit hochgeschwungenem Knittel trabt er hinter dem Esel, den Schafen oder Schweinen her, schneidet sich Pfeifen und schläft in der Sommernacht nicht mehr im Hause, sondern im leichten Strohzelt des Esels oder der Schafe. Mit neun Jahren giebt ihm der Vater die Hacke in die Hand, den Korb auf den Rücken: er muß hinaus auf’s Feld und Geld verdienen. Von der Schule ist natürlich keine Rede. So wird er ein armes, immer halbhungeriges Lastthier, denn der Lohn ist äußerst gering. Sein Sehnen ist jetzt eine Flinte und – ein Bett, was gleichbedeutend mit einer Heirath ist, denn das ärmste Mädchen, das weiß er genau, muß ihm wenigstens ein Bett zubringen. Und nun übt sich der arme Teufel im Singen von Liebesliedern, die Stimme ist rauh, aber die Lust ist groß und der Text ist von einer Zartheit und Innigkeit, wie sie unseren Kunstpoeten längst abhanden gekommen ist. Ich kann mir unmöglich versagen, eines dieser Lieder hier wiederzugeben; ich habe es in der Stadt Cosenza aufgeschrieben, wo es von einem Bauernburschen aus den Casali gesungen wurde.

Mündung des Busento in den Crati unterhalb des Hügels von
San Francesco da Paola (Alarich’s Begräbnißstätte).

„Der Mond ist bleich und bräunlich, Lieb, bist du,
Er trägt das Silber und du trägst das Gold.
Der Mond nimmt ab, du nimmst an Schönheit zu,
Er wird verfinstert, du bist immer hold.
Der Mond ist kalt, du bleibst die Gluthenquelle,
Sein Licht verschwindet, deins glänzt ewig helle.
So schön er ist, du übertriffst ihn noch,
Und süßer klingt dein holder Name doch.“

Wenn man diese robusten braunen, ungekämmten Burschen sieht, so wundert man sich, da sie doch nicht schreiben und lesen können, woher sie diese reichen poesievollen Verse nehmen; würden wir sie fragen, wir bekämen keine Antwort, oder die gleiche, die uns die wilden Waldvögel geben würden, sollten wir sie um den Quell ihrer Lieder befragen. – –

Die Höhen, die das Cratithal zur Rechten und Linken begleiteten, waren bebaut, es war die Zeit der Ernte, aber wie wenige Arme dienten ihr und wie mißmuthig ging das Alles von statten! In den Niederungen wurde hier und da gedroschen, aber in ganz prähistorischer Weise: Maulthiere, Esel, Pferde wurden über das am Boden ausgebreitete Getreide getrieben, einige zogen schwere Steine oder Blöcke über dasselbe hin, eine halbe Arbeit. Erst gegen den Abschluß des Thales nahm die Landschaft ein freundlicheres Gesicht an, die Höhen belebten sich durch Tausende von Häusergruppen und Häuschen, welche die Hänge der Berge buchstäblich bedeckten, sodaß es aussah, als ob ungezählte Schafheerden im Grün weideten – das sind die berühmten Cosentiner Casali, die einen dichten Kranz um ihre alte Mutter Cosenza bilden.

Immer lebendiger wurde die Straße durch Gruppen von heimwärtsziehenden Bauern in bunten malerischen Costümen, durch Schaf- und Rinderheerden; freundlichere Häuser von gastlichem Aussehen, hier und da ein wohlgepflegtes Gärtchen unter Bäumen kündeten die Nähe der Stadt, ein holperiges Pflaster beginnt.

Wir sind in Cosenza, der Kreishauptstadt, einem Orte von etwa 25,000 Einwohnern. Kreishauptstadt – das will zunächst nicht viel sagen, und wer, nachdem er auf seiner Wanderung durch Apulien, Basilicata und Calabrien mancherlei Ungemach ausgestanden, meint, jetzt der städtischen Herrlichkeit im Schooße zu sitzen, der wird arg enttäuscht werden: er sieht eine Stadt wie andere mehr, das heißt wie andere italienische Städte der südlichen Provinzen.

Auch in Cosenza sind die Häuser voll architektonischer Unmöglichkeiten gebaut und die Straßen wie in absichtlicher Unzugänglichkeit angelegt und so eng, daß sie kaum ein Wagen befahren kann. Doch herrschte überall ein reges Leben und die zahlreichen Handwerker arbeiteten fleißig vor ihren Werkstätten, das Leben aber war das einer Landstadt, und die Leute trugen fast alle die bäuerliche Kleidung. Leider kann man fast keinen Schritt thun, ohne auf zahlreiche Spuren der Erdbeben zu stoßen, von denen Cosenza ohne Unterlaß heimgesucht wird. Ich will nur an die entsetzlichen Erdbeben von 1783 und 1854, durch welche Calabrien in eine Wüstenei verwandelt ward, und an das vom 4. October 1870 erinnern, wo man in dieser Provinz allein 1600 total zerstörte

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_080.jpg&oldid=- (Version vom 14.6.2023)