Seite:Die Gartenlaube (1884) 038.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Aber das feine Geschöpfchen ließ sich nicht abschrecken, sie schlang auflachend ihre Arme um den Hals der alten Dame.

„O Mamachen, Du weißt ja, neugierig bin ich fürchterlich, es handelt sich auch wohl nicht um Staatsgeheimnisse? Bitte, bitte, laß mich hier!“

„Ob Du endlich mal vernünftig wirst, Frieda! Willst Du immer ein Kind bleiben? Aber das kommt davon, weil der Moritz Dich so grenzenlos verwöhnt.“

Sie war aber auch zum Verwöhnen geschaffen, diese reizende kleine Person mit den zierlichen Gliedern, dem ovalen feinen Gesichte und dem blauschwarzen glänzenden Haare, das, einfach geordnet, die schöne Kopfform sehen ließ, mit den großen tiefblauen Augen unter schwarzen langen Wimpern. Kein Wunder, daß der „Jung“, wie ihn die Mutter nannte, noch heute so verliebt war, wie am ersten Tage seiner Ehe.

„Nun natürlich!“ sagte er eintretend, wie ärgerlich und doch mit leuchtendem Auge, „da ist sie schon wieder, um zu hören, was es giebt.“

„Noch weiß ich nichts, Moritz.“

„Das ist allerdings sehr traurig, kleine Frau! Ruhig, Ihr Rangen!“ rief er, sich die Ohren zuhaltend. „Wer kann denn hier ein Wort sprechen? Geht rasch hinüber zur Caroline.“ Die Mutter hatte indessen dem Sohne den Brief gegeben: „Else hat ihr Examen bestanden und kommt Dienstag,“ bemerkte sie.

„Ach wahrhaftig!“ rief der stattliche Mann erfreut. „Na, Gottlob, sie wird auch froh sein, der Schulstube den Rücken wenden zu können.“

„Ich wollte Dich nur fragen, Moritz, was nun werden soll mit ihr?“

Seine guten ehrlichen Augen nahmen einen erstaunten Ausdruck an. „Gar nichts vorläufig, Mamachen, ich denke, das arme Ding ruht sich erst einmal ordentlich aus, sie wird einer Erholung wohl bedürfen.“

Frau von Ratenow nickte. „Schön! Aber Du machst ihr den Rücktritt in das Vaterhaus nur um so schwerer.“

„Ja, Moritz, Du verwöhnst sie nur dadurch!“ rief die junge Frau beistimmend.

„Barmherziger! Das arme Kind! Was soll sie denn nur bei dem alten Seebären?“ klang es mitleidig von des Mannes Lippen.

„Es ist ihre Pflicht, den alternden Vater zu pflegen; der Mann verkommt ja förmlich, Moritz, die Siethmann wird alle Tage älter und schmutziger –“

„Jawohl, Du hast Recht, Mutter,“ unterbrach er sie, „aber nicht gleich jetzt; wir haben Zeit genug gehabt, uns das zu überlegen. Die Wohnung dort müßte wenigstens so hergerichtet sein, daß es ein menschenwürdiger Aufenthalt ist; hätte ich es geahnt, es wäre längst etwas dazu geschehen; so wie sie jetzt ist, bringe ich das Mädchen nicht hinein. Die ersten vierzehn Tage bleibt sie hier, da rede mir nur nicht dagegen.“

„Da sind wir wieder auf demselben Fleck,“ sagte die alte Dame.

„Und ganz auf dem richtigen, Mutter!“

Es entstand eine kleine Pause, während welcher man nur die Stricknadeln klappern hörte.

„Heute sind es zwei Jahre, daß den Bennewitzer das Unglück traf mit seinen Söhnen,“ begann der junge Mann endlich; „es ist doch furchtbar, zwei Kinder auf einmal zu verlieren.“

„Gott, ja, es ist entsetzlich!“ stimmte die junge Frau bei. „Ich begreife noch heute nicht, wie es passiren konnte.“

„Ganz einfach, Frieda. Die beiden Knaben waren allein hinausgesegelt auf die Elbe, und da muß wohl ein plötzlicher Windstoß das Boot umgeworfen haben; erst am folgenden Tage fand man die Leichen.“

„Ja, das ist hart,“ bemerkte Frau von Ratenow und trocknete sich unwillkürlich die Stirn mit dem Taschentuch. „Es sind auch just vier Jahre, daß ihm die Frau starb!“

Sie ließ plötzlich die Hände in den Schooß sinken und blickte nachdenkend vor sich hin; endlich sagte sie tief erröthend; „Könnte man da nicht für die Else –, der Mann ist reich und steht ganz allein –?“

„In der That, der Gedanke ist mir auch durch den Kopf gefahren,“ erwiderte Moritz. „Indessen, da Töchter unbedingt von der Erbschaft ausgeschlossen sind, laut Testament des verstorbenen Onkels, und der Bennewitzer ein noch keineswegs alter Mann ist, so darf man wohl kaum zweifeln, daß er zu einer zweiten Ehe schreiten wird, und –“

„Dem Bettler fällt das Brod immer wieder aus der Tasche; es ist eine alte Geschichte, mein Jung,“ unterbrach Frau von Ratenow, wieder völlig im Gleichgewicht; „ich muß ihn aber doch einmal einladen, Moritz, seine Karte fand ich neulich hier vor.“

„Kennst Du den Bennewitzer Hegebach genauer, Mamachen?“ fragte die junge Frau. „Ich habe mich nie um ihn gekümmert, aber meine Schwester Lilli schwärmt sehr für ihn,“ plauderte sie weiter; „er ist ein stattlicher Mann und sieht jedenfalls seinem Vetter nicht ähnlich; weiter weiß ich nichts.“

Aber Frau von Ratenow antwortete nicht darauf.

„Moritz,“ fragte sie, „wie ist der Weg draußen?“

„Gut und fest, Mutter; der Regen ist kaum zwei Zoll durchgedrungen.“

„Dann, bitte, entschuldigt mich, ich habe noch einen Weg vor.“ Sie hatte sich erhoben und ging, freundlich dem jungen Paare zunickend, in ihr anstoßendes Schlafzimmer.

„Wo willst Du hin, Mutter?“ fragte Moritz.

„Mamachen, in einer Viertelstunde fahre ich zur Frau von Kayser!“ rief die junge Frau an der Thürspalte. „Wenn Du so lange warten möchtest?“

„Ich danke, Kinder: ich gehe,“ scholl es heraus. Aber eine Antwort auf die Frage: wohin? erhielten sie nicht. –

Es dunkelte schon stark, als Frau von Ratenow zurückkehrte und geradeweges die Treppe hinauf schritt, an Tante Lott's Thür pochte und gleich darauf eintrat. Das alte Fräulein saß am Fenster und schaute in den herbstlichen Garten hinaus; sie hatte Buch und Strickzeug weglegen müssen, die Dämmerung war zu stark geworden.

„Nein, Lott, zu glaubeu ist es nicht!“ rief die Eintretende und setzte sich, wie außer Athem, auf den nächsten Stuhl.

Tante Lott war erschrocken; die Cousine kam so selten aus ihrer reservirten ruhigen Haltung.

„Ratenowchen! Was um Gotteswillen ist passirt?“ fragte sie, von der Estrade herab tretend.

„Nein, Lott! Siehst Du, ich bin zu Dir gegangen, weil ich mit Moritz nicht darüber reden mag. Was passirt ist? Nun, Du weißt, übermorgen kommt Else; - Moritz und ich waren verschiedener Ansicht über ihre zukünftige Stellung, ich sagte: sie muß zu ihrem Vater, er behanptet, das sei eine Grausamkeit, sie solle hierher –“

„Und Frieda?“ wagte Tante Lott zu unterbrechen.

„Frieda? Frieda kommt hierbei gar nicht in Betracht,“ scholl es zurück mit sehr geringschätziger Betonung; „sie sagt einmal so und ein andermal so, wie es ihr gerade paßt, ein Urtheil hat sie nicht, hat es nie gehabt. Wenn sie gerade Theater spielen wollte, und ihr Jemand für eine Rolle fehlte, zu der sich Else am Ende eignet, würde sie sagen: ‚Ach, Mamachen, laß sie nicht zu dem bärbeißigen Vater!‘ - und wenn wir gerade zufällig Dreizehn zu Tische wären, so würde sie wahrscheinlich gesagt haben: ‚Ach ja, Mamachen, das Kind gehört zum Vater!‘ - nur der ominösen Zahl wegen.“

Frau von Ratenow war einen Moment still geworden.

„Na kurz,“ fuhr sie fort, während sie hastig den schweren seidenen Mantel aufnestelte, „ich machte mich auf und ging zu Hegebach; ich hoffte, er würde selbst den Wunsch haben, das Kind in sein Haus zu nehmen, damit es doch auf seine alten Tage noch ein wenig Licht darinnen werde. Und was glaubst Du, Lott?“ rief sie mit erhobener Stimme und ließ ihre Hand schwer auf die Tischplatte fallen. „Er will sie nicht! Hast Du es jemals anderswo als in Deinen dummen Romanen gefunden, daß ein Vater sein einzig Kind nicht in sein Haus aufnehmen will? Ordentlich heftig wurde er zuletzt, an allen Gliedern hat er gezittert, redete von einem jungen Mädchen mit seinen hunderttausend Ansprüchen an das Leben, und daß er nur nach dem Einen lechze, nach Ruhe, Ruhe, Ruhe!“

„Aber, Ratenowchen, Du alterirst Dich mehr, als nöthig!“ rief Tante Lott beschwichtigend; „er ist doch immer so gewesen.“

„In des Kukuks Namen,“ fuhr die erzürnte Frau auf, „da soll sich der Mensch nicht ärgern! Haarklein hat er mir bewiesen,

daß er einen solchen Luxusartikel, wie eine erwachsene Tochter,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_038.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2020)