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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Und nun berichtete Ditta den Verlauf der Dinge, wie Alles zugegangen und wie sie nach dem Ueberfall vor zwei Tagen den Entschluß gefaßt habe, sich die Haare lieber von ihm, als von irgend einem Anderen abschneiden zu lassen.

„Und werden Sie mir nun verzeihen?“ frug Dilta verschämt und leise.

„Verzeihen? Von ganzem Herzen danken will ich Dir, Du liebes, kluges, tapferes Mädchen,“ sagte darauf Herr Lugeno. „Wahrlich, Du bist klüger und gescheidter, als der klügste Advocat.“ Und jetzt zog er die schöne große Dorfjungfrau an sich, nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und gab ihr einen langen, langen Kuß, den Ditta herzlich erwiderte.

„Wie schade um Deine schönen Haare! Wenn sie nur erst wieder gewachsen wären!“ nahm nach dieser so angenehm ausgefüllten Gesprächspause Herr Lugeno das Wort, indem er zärtlich die kurzen Strähnen seiner Braut streichelte.

„Dafür mußt Du als Friseur sorgen,“ entgegnete Ditta. „Ich habe doch einen guten Tausch gemacht. Welches Mädchen gäbe nicht den schönsten Zopf für einen so guten, lieben, klugen Mann wie Du, noch dazu, wenn der Geliebte ihn selbst abschneidet!“ fügte das Mädchen neckend hinzu.

*      *      *

Indeß in dem Gemüseladen und Barbierstübchen auf dem Marktplatze in Palene die beiden Liebenden so freundliche Worte tauschten und die so rosig sich vor ihnen aufthuende Zukunft besprachen, gab es im Dörfchen Palenella eine stürmische, aufregende Scene. Am Morgen dieses Tages hatte auch Pieteranton das Vorgefallene erfahren. Er schnob Wuth und Rache und eilte nach Palenella hinunter, das Herz fast berstend vor eifersüchtigem Zorne, den Kopf voll wilder Gedanken. Er raste zuerst gegen die Bauern wegen ihrer Dummheit – ihm war der blonde Barbier von allen Menschen am meisten verhaßt, und jetzt gewann er ihm noch das Mädchen ab, welches eine so heftige Leidenschaft in ihm entzündet hatte. Er versuchte die Einwohner gegen den Händler aufzuhetzen, er schilderte ihn als einen schlauen Spitzbuben, der mit Ditta im Einverständniß gehandelt, und das Mädchen um des Geldes wegen nähme. Damit kam er aber übel an. Die Dörfler wollten an ihrem Siege nicht rütteln und deuteln lassen. Sie wußten die Sache besser, und es wurde dem Pieteranton so eindrücklich bedeutet, die Hände von dieser Angelegenheit zu lassen, daß er vorerst vierzehn Tage zu Bett lag und dann nicht nur an Palenella in einem sehr weiten Bogen vorbeiging, sondern sogar den ganzen Bezirk verließ und nach Neapel in eine Stellung sich begab.

Mutter Ceprano zeigte sich außerordentlich freundlich und höflich gegen den neuen Tochtermann, der auf Ditta’s Rath beschlossen hatte, das Gütchen hier oben zu verpachten, den Pachtertrag der Mutter zum Leben zu überlassen, sein Geschäft in Palene zu verkaufen und in Rom eine nette Barbierstube mit kleinem Café zu etabliren, wo sie schon dafür sorgen wollten, daß die Gäste zufrieden seien.

Drei Wochen später feierte das Paar seine Hochzeit, wobei ganz Palenella und fast ganz Palene zugegen war und sehr viel Geld in Schwärmern, Kanonenschlägen und Raketen verpufft wurde.

Diese seltsame Heirath machte natürlich im ganzen Bezirk das größte Aufsehen, und der heimlich gehaltene Gebrauch der Bauern in den Abruzzen ward dadurch in weiten Kreisen bekannt. Nicht immer jedoch verlief diese barbarische, wohl uralte, für jene Bevölkerung so außerordentlich charakteristische Sitte so heiter, führte zu einem so glücklichen Ende, wie wir dies in unserer kleinen Erzählung gezeigt.




Der Knabenhort in München.

Von R. Artaria.

Ein Asyl für aufsichtslose Kinder nach der Schulzeit – wer hätte an ein solches Bedürfniß vor dreißig Jahren gedacht oder Geld dafür gegeben! Wie Viele legen auch heute noch die Anzeige davon bei Seite und brummen: „Humanitätsblödsinn! Man soll die Jungen auf der Gasse spielen lassen, wenn die Schule aus ist, das wird ihnen nichts schaden. Wohin soll es führen, wenn man nun auch noch die Proletarierkinder in Watte wickelt!“

Allen solchen Philosophen, die in der Behaglichkeit ihres Zimmers keine rechte Vorstellung von der kalten, dunkeln Arbeiterwohnung haben, von der Vater und Mutter abwesend sind, um den Kindern Brod zu schaffen, ihnen allen möchte ich zur Bekehrung den Gang nach der unteren Türkenstraße in München empfehlen, den ich kürzlich zurücklegte, um die Anstalt „Knabenhort“ zu besuchen. Sie hat schon in der kurzen Zeit ihres Bestehens bewiesen, daß sie einem wirklich dringenden Bedürfniß abhilft, und die Zeit ist nicht mehr fern, wo ähnliche Anstalten so gut wie die Volksschulen dauernde Einrichtungen jeder Großstadt sein werden. Bricht doch neuerdings auch in den Kreisen, die sich am liebsten in engherzigem Genußleben ganz vom Elend der Massen abschließen möchten, die Ahnung durch, daß die vielen feinen Reize und Vergnügungen der Großstadt nicht nur mit Geld, sondern mit der Gesundheit und Lebenskraft von Tausenden erkauft werden und daß es deshalb Pflicht der Bevorzugten und Genießenden ist, diese Existenzen in’s Auge zu fassen und ihnen die hülfreiche Hand zu bieten.

In wie vielen Arbeiterhäusern genügt die Thätigkeit des Mannes nicht, die Familie zu ernähren, sodaß die Mutter mit auf den Erwerb gehen muß; wie viele arme Wittwen arbeiten allein und angestrengt tagüber außer dem Hause und kommen Nachts mit banger Sorge zurück, ob ihre Kinder nicht an Leib und Seele Schaden genommen haben! Wie viele junge Verbrecher endlich säßen nicht frech und ruchlos auf der Anklagebank, um später ungebessert aus dem Zuchthaus heimzukehren, wenn in ihrer Kindheit sich eine Menschenseele um ihre Erziehung gekümmert und sie mit Ernst und Liebe auf den rechten Weg gewiesen hätte! Dies Alles sind unumstößliche Wahrheiten, und deshalb erregt es das höchste Interesse, statt der vielen papiernen Declamationen über die sociale Frage, die immer nur das „schätzbare Material“ vermehren, hier einmal dem praktischen Versuch zu begegnen, diese böse und gefürchtete Frage direct an der Wurzel anzugreifen.

Was er wohl sagen würde, der Verfasser des „Emile“, dessen Herz so warm für die bessere Erziehung des Menschengeschlechtes schlug, wenn er mit uns hätte eintreten können in das bescheidene, mäßig große Parterrelocal (Türkenstraße 48), wo fünfzig junge Blond- und Braunköpfe, um eine Anzahl langer Tische gereiht, beim Eintritt des Fremden sich erhoben und einen schallenden „Guten Abend“ wünschten? Der „Erzieher“, der diese Jugend von 6 bis 14 Jahren zu beaufsichtigen hat, und Herr Rath Jung, der ausgezeichnete Mann, dessen aufopferungsvollem Bemühen die Einrichtung der Anstalt zumeist zu verdanken ist, kommen uns mit der größten Freundlichkeit entgegen, und ihnen verdanken wir die Aufschlüsse, welchen ich die nachstehenden Notizen entnehme.

Der satzungsgemäße Zweck des Vereins, welchem Jeder durch den Jahresbeitrag von nur einer Mark beitreten kann, ist: schulpflichtige Knaben unbemittelter Eltern während eines Theiles der schulfreien Zeit durch geeignete Personen in bestimmten Localen zu

beaufsichtigen, nützlich zu beschäftigen oder in Verstand und Gemüth

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_031.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)