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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Im Gegensatz dazu hatte der mittelalterliche Staat immerhin einige Einrichtungen zur Verhütung und Sühne falschen Gerichts getroffen. So zwang er den Ankläger, Bürgschaft für die Redlichkeit seiner Anklage zu leisten, und falls er dies nicht konnte, steckte er bis zur Ueberführung des Angeklagten auch den Ankläger selbst in’s Gefängniß. Eine solche unredliche Anklage wurde mit derselben Strafe belegt wie das bezichtende Verbrechen. Nach friesischem Rechte sollte einem pflichtvergessenen Richter das Dach seines Hauses abgetragen oder das Haus gar niedergebrannt werden. Der Sachsenspiegel, ein Gesetzbuch des dreizehnten Jahrhunderts, erhielt eine durch die spätere Praxis noch erweiterte Bestimmung, wonach Demjenigen, der durch die Schuld sei es der Obrigkeit oder einer Privatperson widerrechtlich in gefänglicher Haft gehalten worden ist, für jeden Tag und jede Nacht vierzig Groschen als Entschädigung (sogenannte Sachsenbuße) gewährt werden soll.

Aber es fehlte auch nicht an Beispielen, wo die Obrigkeit, dem Richter in ihrem Herzen folgend, freiwillig sich entschloß, das einem Unschuldigen angethane Unrecht frei und vor aller Welt zu sühnen. Einen solchen Fall richterlicher Sühne behandelt das unserer heutigen Nummer beigegebene Bild des talentvollen Antwerpener Malers van der Ouderaa aus der Geschichte seiner Vaterstadt. Der reiche Handelsherr Jan von Breuseghem war – die Handlung spielte im Jahre 1593 – der Verbindung mit den Rebellen angeklagt, eingekerkert und gefoltert worden. Als endlich seine Unschuld an den Tag kommt, beschließt der Magistrat, dem armen Opfer einer mangelhaften und allzu raschen Justiz feierlich Abbitte zu thun und ihm das Ehrengeleite bis zu seiner Wohnung zu geben. Als der Freigelassene, gebrochen und unterstützt von Sohn und Tochter, aus der Pforte seines Kerkers heraustritt in die enge Straße vor dem „Steen“, empfängt ihn der versammelte Magistrat, Wachskerzen in den Händen (ein Symbol der Wahrheit und des Lichtes), und sein Richter tritt ihm mit der Frage entgegen, welche Sühne er für das unschuldig erlittene Unrecht begehre. Voll milder Würde antwortet ihm der gebrochene Greis: er sei reich, Gesundheit und Ruhe habe man ihm unwiederbringlich geraubt, so begehre er keine andere Sühne, als daß jene Folterinstrumente, mit denen man ihn gequält habe, zum ewigen Gedächtnisse an diese Stunde in seinem Kerker angekettet würden. Also geschah es denn auch. Erst im Jahre 1794 wurden die Folterwerkzeuge von den Franzosen entfernt.

Für die Opfer des politischen und religiösen Fanatismus übernimmt die Sühne vielfach die Geschichte. Sie trägt ihre Namen mit ehernem Griffel in ihre Tafeln ein und feiert sie als Helden und Heilige. Ruhigere Zeiten und die Geschlechter aufgeklärter Nachkommen setzten ihnen wohl noch Denksteine und Gedächtnißsäulen.

Die Wittwe des Jean Calas erhielt von dem Könige eine Entschädigung von 12,000 Franken, deren Söhne und Töchter geringere Summen. Da aber die Kosten des Processes noch weit mehr betrugen, so eröffnete man eine öffentliche Subscription durch Verkauf eines die Familie darstellenden Kupferstichs. Einzelne Vermögende zahlten bis zu fünfzig Louisd’ors für ein Exemplar.

Auch an Victorine Salmon, welche des Giftmordes fälschlich verdächtigt fünf Jahre Isolirhaft erlitt, zahlte das Volk von Paris die Entschädigung, während in dem Falle „Grebe“ der Kurfürst von Hessen den Angeklagten und seinen Genossen mit je 6000 Thalern entschädigte, dem übereifrigen Richter und seinem Diener aber den Proceß wegen Amtsmißbrauchs machte.

So fand die Nothwendigkeit eines Schadenersatzes bereits vielfach ihre thatsächliche Anerkennung. Aber noch immer fehlte die Regulirung im Wege des Gesetzes. Auch für diese begann alsbald die agitatorische Bewegung in Fluß zu kommen. So setzte im Jahre 1781 die Akademie zu Chalons einen Preis aus für die beste Beantwortung der Frage, wie für den unschuldig erkannten Bürger die ihm nach natürlichem Rechte gebührende Entschädigung zu verschaffen sei? Die Verfasser der beiden gekrönten Preisschriften, de la Madeleine und Brissot, verlangen neben der Geldentschädigung noch besondere Bevorzugungen des für schuldlos Erkannten wie Decorationen, Freistellen für seine Kinder u. dergl.

In einem der französischen Nationalversammlung im Jahre 1790 vorgelegten Entwurfe handelte ein Artikel von dieser Entschädigung. Dieselbe wurde von dem Berichterstatter als eine „Schuld der Gesellschaft“ bezeichnet, welche sie tilgen müsse, denn auch die Gesammtheit aller Menschen sei der Pflicht, gerecht zu sein, nicht mehr entbunden, als der einzelne Mensch. Auch im englischen Parlamente wurde im Jahre 1808 eine darauf zielende Bill eingebracht, aber dann wieder zurückgezogen. Die erste gesetzliche Sanction erhielt die Frage in dem Criminalgesetzbuche von Toscana (1786). Auch die Mehrzahl der Schweizer Cantone nahm eine derartige Bestimmung an, und die württembergische Strafproceßordnung vom Jahre 1868 enthielt gleichfalls eine solche. Die italienische und französische Literatur haben die Frage nicht schlummern lassen, und in Deutschland empfing sie neue Anregung durch die Schrift vom Heinze (1868), besonders aber durch den deutschen Juristentag, der dieselbe mehrere Jahre lang auf seinem Programm führte und sich zuletzt ebenfalls mit ganz überwiegender Mehrheit für die Entschädigung unschuldig Verurtheilter aussprach.

Aber es bedurfte erst einer Anzahl neuer mahnend an das Herz der Gegenwart klopfender „Beweisfälle“, um die Frage vor den deutschen Reichstag zu bringen. Gerade in den letzten Jahren haben diese Fälle der Verurtheilung Unschuldiger eine seltene Häufung erlebt.

Wir können nur flüchtig an einzelne erinnern. So verurtheilte das Schwurgericht zu Bromberg 1879 den Müller Stephan Kolozkowski wegen Brandlegung seiner Mühle zu drei Jahren Zuchthaus. Nach Verbüßung der Strafe ergaben sich die Zeugenaussagen als unwahr und Kolozkowski wurde von einem zweiten Schwurgerichte freigesprochen, nachdem sich herausgestellt, daß ein paar inzwischen verschwundene Müllergesellen die That verübten. So der schwere Fall der Katharina Steiner zu Wien, welche wegen Mordes erst zum Tode, dann in zweiter Instanz zu sechs Jahren schweren Kerkers verurtheilt worden war, und erst nachdem sie bereits vier Jahre davon verbüßt hatte, durch die Selbstangabe des wahren Mörders wieder frei wurde. So der Harbauer’sche Fall, in welchem ein Vater in Folge des irrigen Gutachtens der Aerzte wegen der Vergiftung des eigenen Kindes durch Schwefelsäure verurtheilt wurde. So die Verurtheilung des Grundeigners Joseph Kumberger in Steiermark wegen Theilnahme an dem Morde seiner Gattin auf Grund der lügenhaften Angabe des wirklichem Thäters. Auch hier war zum Glücke die Todesstrafe durch landesherrliche Gnade in Kerkerhaft umgewandelt worden. Nach achtzehnmonatlicher Haft und mehrmonatlicher Todesangst wurde Kumberger, physisch und finanziell ruinirt, in Freiheit gesetzt. So der ganz neue Fall der Frau Destillateur Steigerwald in Berlin , welche (1880) wegen schwerer Mißhandlung eines angenommenen Kindes zu drei Jahren Gefängniß verurtheilt und nach Wiederaufnahme des Processes am 6. Juni 1883 nach Aufhebung des früheren Urtheils freigesprochen wurde, da sich die beschworenen Aussagen der Belastungszeugen als falsch erwiesen.

Ein aus Zeitungsnachrichten zusammengestelltes Verzeichniß in dem „Juristischen Wochenblatte“ weist für die letzten beiden Jahre nicht weniger als zweiundzwanzig Fälle nach, in welchen nach Wiederaufnahme des Verfahrens Freisprechungen erfolgten, während die betroffenen Angeschuldigten vorher zu größtentheils schweren, vielfach schon verbüßten Strafen verurtheilt waren.

Wo Thatsachen reden wie diese, da hören alle theoretischen Gründe und rechtlichen Spitzfindigkeiten auf. An ihrem mächtigen Worte wird sich auch der Widerstand der Regierungen brechen! Jedem Jahrhunderte fällt eine Anzahl Aufgaben zu, welche die Geschichte ihm aufgiebt zu erfüllen. Unter ihnen ist es nicht die schlechteste, welche eine gesetzliche Anerkennung der Rechte der ungerecht Angeklagten und unschuldig Verurtheilten verlangt. Hoffen wir mit einem der wärmsten Vertheidiger dieser Rechte, daß das deutsche Reich in baldigster Erfüllung jener Aufgabe von Neuem beweist, daß es seinen besten Ruhm darin findet, ein Reich der Gerechtigkeit zu sein! Fr. Helbig.     


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_015.jpg&oldid=- (Version vom 4.9.2023)