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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Von der häufigsten und bedeutsamsten unter allen, der Alge des rothen Schnees, hat man auch wohl vermuthet, daß sie nur den niederen Zustand einer höheren Alge vorstelle, die im ewigen Schnee niemals zu einer höheren Entwickelung gelange, was um so merkwürdiger wäre, als ihre lebhaft rothen Kügelchen von 1/150 Linie Durchmesser vielleicht alle andern Pflanzen der Erde an Individuenzahl übertreffen, da sie meilenweite Schneestrecken in solcher Massenhaftigkeit bedecken, daß derselbe zuweilen bis zu einer Tiefe von mehreren Fußen blutroth gefärbt erscheint, während bereits auf einer Fläche von einer Quadratlinie hunderttausend Individuen Platz haben. Der rothe Schnee hat seit seinem ersten genaueren Bekanntwerden die Phantasie der Gelehrten lebhaft beschäftigt. Es kann wohl nicht bezweifelt werden, daß er schon in früheren Zeiten beobachtet worden ist, und wenn Properz von den Rosenwangen eines jungen Mädchens sagt, sie glänzten:

„Wie wenn Mäotierschnee mit Mennige kämpft vom Iberus,“

so möchte man hinter dem seltsamen Vergleiche eine Beobachtung rothen Schnees als Veranlassung vermuthen. In Schnurrer’s „Chronik der Seuchen“ und ähnlichen Sammlungen auffallender Naturereignisse wird öfter von blutrothem Schnee berichtet, doch weiß man in solchen Fällen natürlich nicht, ob die Färbung von rothen Algen oder von rothem, eisenhaltigem Meteorstaub hergerührt hat. Um echten „rothen Schnee“ in unserem Sinne handelte es sich indessen offenbar bei den Beobachtungen von de Saussure auf seinen Alpenreisen. Derselbe hatte ihn seit dem Jahre 1760 zu verschiedenen Malen wahrgenommen, am schönsten 1778 auf dem St. Bernhard, hatte aber gemeint, es müsse ein vom Winde hergewehter rother Blütenstaub sein, wie der gelbe, welcher den Schwefelregen erzeugt, obwohl er keine Pflanze kannte, die einen derartigen rothen Blütenstaub besitzt. Die Erkenntniß, daß der rothe Schnee der Polarländer und Gebirge seine Färbung einem lebendigen Wesen verdankt, datirt erst von der berühmten Polarexpedition von Roß und Parry (1818), bei welcher Capitain Roß an der grönländischen Küste die 600 Fuß über dem Meere belegenen „Scharlachklippen“ (crimson cliffs) entdeckte, welche die Wände der Baffins-Bai im brennendsten Roth erglänzen ließen, stellenweise eine Tiefe von drei Metern und in der Nähe vom Cap York eine Ausdehnung von acht Seemeilen erreichten.

Franz Bauer, der den rothen Schnee zuerst mit dem Mikroskope untersuchte und die organischen rothen Kügelchen darin erkannte, meinte, es handle sich um die gestielten Knöpfchen eines Brandpilzes, den er den Schnee-Brandpilz (Uredo nivalis) taufte, eine recht unglückliche Idee, da die Brandpilze, wie alle Pilze, nur auf einer organischen Unterlage leben können. In demselben Jahre wie Roß (1818) beobachtete der berühmte Alpenforscher E. von Charpentier den rothen Schnee wiederum in den Schweizer Alpen und stellte zuerst die Vermuthung auf, welche einen langen Nachhall haben sollte, daß es sich um einen aus der Luft herabfallenden und darum über so weite Schneeflächen verbreiteten Meteor-Organismus handeln müsse.

Hooker erkannte zuerst die Algennatur des neu entdeckten Organismus, den er jenen rothen Schleimalgen (Palmella- und Tremella-Arten) verglich, die zuweilen als blutrothe Schleimmassen im Wasser und auf feuchter Unterlage auftreten. Wrangel wollte dann (1823), weil die Kügelchen ohne organische Unterlage erscheinen, eine Flechte daraus machen, die er Lepraria kermesina nannte, und meinte, die Luftelektricität erzeuge wohl die Keime derselben, wie er denn gesehen haben wollte, daß ein vom Blitze gespaltener Felsen sich an den Spaltflächen über und über mit solchem rothen Staube bedeckt habe.

Es kam die Zeit der naturphilosophischen Phantastereien, und Nees von Esenbeck wurde mit Ramond völlig darüber einig, daß die rothen Kügelchen nichts anderes seien, als ein „im oxydirten Schnee organisch gewordenes rothes Glimmerpulver“; der starre Fels habe bei seiner Verwitterung „den Trost empfangen, dem Tode abzusterben“ und lebendig zu werden. Erst Agardh machte diesen Träumereien ein Ende, indem er die Algennatur als zweifellos erwies und der neuen Alge außer dem poetischen Namen der Schneeblüthe den wissenschaftlichen Namen des carmoisinfarbenen Schnee-Urkorns (Protococcus kermesina nivalis) beilegte. Ehrenberg beobachtete 1838 die Entwickelung desselben, indem er aus den Schweizer Alpen herrührende Proben auf Schnee aussäete und sie zu kettenartig verbundenen, erst grünen, dann rothwerdenden Kügelchen sich entwickeln sah; er legte ihr den Namen des Schneekügelchens (Sphaerella nivalis) bei, den sie noch heute führt.

Indessen waren die Irrfahrten des rothen Schnees noch nicht zu Ende. Nachdem Unger und Kützing im Anfang der vierziger Jahre beobachtet hatten, daß die jungen Keimsporen der meisten Algen sich lebhaft im Wasser hin- und herbewegen, und dabei das Aussehen von Infusorien zeigen, begann man lebhaft von der Verwandlung der Algen in niedere Thiere zu träumen und den rothen Schnee zu den Thieren zu rechnen, da Wrangel, Voigt und Meyen auch bei ihm solche Bewegungen wahrgenommen zu haben glaubten. Nach und nach erkannte man aber, daß die freie Ortsbewegung durchaus kein den Thieren allein zukommendes Merkmal darstellt und daß die Keimsporen der niederen Pflanzen, obwohl sie sich eine Zeitlang im Wasser frei umherbewegen, wobei sie wie echte Infusorien vielfach mit schwingenden Wimpern versehen sind, dabei doch immer Pflanzen bleiben und niemals zu einem Thiere auswachsen. Seitdem ist die Pflanzennatur der Schneeblüthe nicht mehr angezweifelt worden.

Die rothe Schnee-Alge, welche man auf den Alpen, Karpathen, Pyrenäen und auch auf den Gipfeln der nordamerikanischen Gebirge bis nach Californien herab beobachtet hat, ist doch kein so abgesagter Feind der Wärme, als es nach ihrem eisigen Aufenthalt scheinen könnte. Sie erscheint ebenso wie am Pol, im ewigen Schnee unserer Gebirge thatsächlich nur im Sommer, erst als leichter, rosenrother Anflug, besonders häufig am Monte Rosa, dann mit wachsender Farbentiefe namentlich in den Fußstapfen der Menschen, und verwandelt sich bald in eine schwärzliche Masse, die aber nicht blos absterbende Substanz darstellt, sondern zum Theil aus den fester eingekapselten „ruhenden Sporen“ besteht, in welche das Leben dieser mikroskopischen Organismen sich zurückzieht, um in solcher Gestalt zu überwintern. In der Form „ruhender Sporen“ können die niederen Organismen den stärksten Temperaturwechsel ertragen. Man hat manche derselben einer trockenen Hitze bis zu 100° ausgesetzt, und sie nachher doch noch keimfähig gefunden, man hat sie ebenso längere Zeit hindurch einer weit über –100° hinausgehenden Kälte, überhaupt den höchsten Kältegraden ausgesetzt, die man künstlich erzeugen konnte, ohne ihre Lebenskraft dadurch zu zerstören. Die lebende Materie kann also in dieser Einkapselung vorübergehend äußere Temperaturunterschiede von mehr als zweihundert Graden ohne Schaden überstehen, und darin liegt das Geheimniß der schweren Vernichtbarkeit aller jener organischen Keime, welche wir als die Erreger der Gährung, Fäulniß und so vieler Krankheiten erkannt haben. Auch die in letzterer Beziehung so viel genannten Bakterien wurden auf der einen Nordenskjöld’schen Expedition im ewigen Eise lebend angetroffen.

Auch die Zeit scheint spurlos an diesem eingekapselten Leben vorüberzugehen. Finden die Sporen längere Zeit hindurch keine günstige Gelegenheit zur Entwickelung, so sterben sie darum doch nicht ab, und so hat man die getrockneten Ueberreste des rothen Schnees, die von verschiedenen Polarexpeditionen mitgebracht worden waren, noch nach Jahren zur neuen Entwickelung bringen können. Wir dürfen uns also in keiner Weise darüber wundern, daß jene ruhenden Sporen des rothen Schnees ohne Schaden die halbjährige Nacht des Polarwinters überdauern, und vielleicht im Winter, mit neuem Schnee bedeckt, jahrelang im Schlafe liegen, bis einmal die über ihnen liegende Schneedecke in einem warmen Sommer wieder wegschmilzt und die vergrabenen Lebenskeime wieder an der Oberfläche gedeihen.

Denn eine etwas über den Nullpunkt hinausgehende Wärme verlangt auch unsere Schnee-Alge zu ihrer gedeihlichen Entwickelung, und erst wenn die Sonne im Sommer so hoch über den Horizont emporgestiegen ist, daß ihre Strahlen hinreichen, den Schnee an der Oberfläche zu schmelzen, entwickelt sie sich lebhafter. Die Temperatur des Schmelzwassers steigt dann auf mehrere Grade über Null, und diese Temperatur reicht hin, um den bescheidenen Wärmeansprüchen dieser niederen Organismen zu genügen. In dem ununterbrochenen Lichte des Polarsommers kann sie sich dann auf dem schmelzenden Schnee in einer Ueppigkeit entwickeln, daß sie zuletzt weite Flächen bedeckt und in einer kaum abzuschätzenden Individuenzahl auftritt. Obwohl die Sonne selbst im Hochsommer nicht gerade hoch am Horizonte emporsteigt, erzeugt sie doch in Folge der Klarheit und Trockenheit der Luft jener hohen

Breiten um die Mittagsstunde eine beträchtliche Wärme, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_846.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2024)