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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Nur in wenigen Ausnahmefällen sind gerade aus ihnen dauernde Städte geworden, welche zur Erreichung dieses würdigen Zieles sich dann jedesmal noch durch eine zweite Jugend und einen zweiten Gährungsproceß hindurch zu arbeiten hatten.

Um diese Vielseitigkeit und das sonstige Wesen einer derartigen Pacificbahnstadt auf den ersten Blick würdigen und verstehen zu lernen, ist es wünschenswerth, daß man daselbst Abends oder zur Nachtzeit ankomme. Während die Zelte und Plankenbaulichkeiten des eigentlichen Hauptquartiers mit den Bureaux und Wohnungen des Ingenieur- und Beamtenstabes gewissermaßen seitab in feierabendlichem, discretem Dunkel liegen, strahlt das Uebrige der bretternen und leinwandenen Eintagsstadt in einer Beleuchtung, welche den ganzen marktschreierischen Glanz einer nächtlichen Meßscene heraufbeschwört. Damit aber auch der von einer solchen unzertrennliche Lärm nicht fehle, tönt aus jeder dritten weitgeöffneten Thür Musik, zu deren aufdringlichen Weisen die in dem Vortrab einer nagelneuen Cultur hierher verschlagenen schwieligen Arbeiter und Träger dieser Cultur ihrem Bedürfniß, den in ungewöhnlicher Weise gemachten Erwerb auch in ungewöhnlicher Weise wieder an den Mann, beziehungsweise die Frau zu bringen, die vollsten Ziegel schießen lassen. Trink-, Spiel- und Tanzhäuser reihen sich an Tanz-, Spiel- und Trinkhäuser, mit Ausnahme jener Etablissements, die alle diese erlesenen Bestimmungen in einer und derselben Zelt- oder Holzumwandung vereinigen. In allen aber halten die männlichen Geier und weiblichen Ratten des Ueberland-Bahnbaues ähnliche Ernten, wie ihre allerdings noch auf ergiebigeren Feldern hausenden Vettern und Cousinen der Goldlager und sonstigen Baracken-Gemeinwesen fernstwestlicher Edelmetall-Regionen.

Sehr manierlich und geordnet geht es in diesen Tempeln des auf die Prairien und in das Weichbild der Felsengebirge hinausgeschobenen großstädtischen Nachttreibens freilich nicht zu. Es ist sogar nichts Ungewöhnliches, daß dabei gelegentlich der Revolver ein Wort mitspricht, wiewohl das lange nicht so häufig der Fall ist, wie man im Osten der Vereinigten Staaten oder gar in Europa anzunehmen geneigt ist. Um so stehendere Regel ist es dafür, daß es immer erst die sieghafte Frühsonne in eigenster Glanzmajestät ist, welche die grellen Lichter dieser Vergnügungstempel auslöscht und die primitiven Bretterverschläge und Zeltgefüge derselben auch ihrer letzten Tempelglorien entkleidet. Diese Gründlichkeit, diese Ausdauer im Genießen, namentlich am Spieltisch, erklären sich leicht genug. Abgelebtheit und schnell wieder in ihre alte Erschöpfung zurückfallende Uebersättigung haben mit der wilden Jagd nach tollster und derbster Zerstreuung, die hier auf der scheinbaren Grenze alles dessen, was man Leben und Lebensgenuß nennen möchte, souverain herrscht, noch nichts zu thun. Maß und Ziel sind diesen Grenzlebemännern ebenso unbekannte Dinge, wie ein Faro-Verbot, wie eine städtische Polizeistunde oder ein Gesetz der Sonntagsheiligung.

Und das ist nicht nur „an der Front“ entstehender Pacificbahnen, sondern in dem ganzen ungeheuren Gebiet so, welches wir den fernen Westen nennen, und das man sich merkwürdiger Weise nicht nur in Europa, sondern auch, allen officiellen Censusaufnahmen zum Trotz, in der östlichen Union selbst noch immer als eine menschenleere, höchstens von Indianern durchschwärmte Riesenwildniß vorstellt. Dünne, äußerst dünne gesät ist freilich diese junge weiße Bevölkerung der Plains, der Felsengebirge und des hinter ihnen liegenden großen continentalen Binnenbeckens in diesem Augenblick freilich noch. Aber ebenso ist es auch in diesem Augenblick bereits eine Thatsache, daß man die Angehörigen dieser dünn gesäten Bevölkerung überall antrifft, daß dieselben über die ganze Ausdehnung dieser endlosen Bodenfläche unter einander und dadurch auch mit der großen Außenwelt im regsten Verkehr, in der unablässigsten Beziehung stehen.

Und doch, wie so ganz anders, als die große Welt da draußen, wie bunt und malerisch in ihrer Art, und wie charakteristisch zugleich ist diese ganze Menschheit der Hochsteppen und der Berge des Großen Westens! Eine kurze Aufzählung ihrer Hauptgestalten mag genügen, das oben in wenigen Strichen hingeworfene Bild der Eisenbahnstadt-Bevölkerung zu vervollständigen.

Von dem berittenen „Cow boy“ – das Wort muß bei der absoluten Unmöglichkeit einer wörtlichen Verdeutschung in „Kuhjunge“ unübersetzt bleiben – war schon gelegentlich der Viehheerden Montanas die Rede. Aber wie originell er und gleich ihm sein Berufsgenosse von Wyoming, Colorado, Neu-Mexico und Texas auch in seinem prahlerisch-malerischen Aufzuge sei, ein sehr würdiges und empfehlenswerthes Product der jungen Felsengebirgscivilisation ist er gerade nicht. Neben dem Postkutschen- und Straßenräuber, der hier den beschönigenden Namen „Heerstraßenagent“ („Road agent“) führt, gilt er in seiner bewährten Neigung zur brutalsten Gewaltthätigkeit für den einzig anrüchigen unter den mehr oder minder rauh gearteten Charakteren dieser Civilisation. Der „Miner“, der diesem auf der Suche nach Edelmetalllagern vorangehende „Prospector“, der den Farmer und Heerdenzüchter in sich vereinigende „Ranchman“, der Postwagenkutscher, der Felsengebirgspolitiker, der Jäger und der „Trapper“, das sind Leute besserer Art; mit ihnen Allen ist leicht auf guten Fuß zu kommen und, wenn nicht der gerade hier besonders mächtige Genius des Alkohol allerlei Mißverständnisse anrichtet, auch darauf zu bleiben.

Selbst der meist äußerst vierschrötige und neben seinen Flaschen auch mit dem Revolver höchst fixe Schänke der primitiven Trinkstube, ja selbst der unter dem nämlichen Dache hausende professionelle Spieler sind davon nicht ausgenommen. Sie Alle leben nicht umsonst mit einer unbegrenzten Natur in steter Berührung, und neben ihrer wilden Art besitzen sie auch die erquicklicheren Eigenschaften offenherziger und offenhändiger Naturmenschen. Es ist durchaus bezeichnend für sie, daß sie nicht nur einen meist ausgezeichneten Revolver in der Hüftentasche führen, sondern auch werthvolle Uhren tragen, deren schwere, echte Ketten mit gediegenen Gehängen sie weit sichtbar zur Schau stellen.

Im Uebrigen sind sie keine Dandies in ihrer äußeren Erscheinung, deren Hauptzüge das farbige Wollenhemd, der breitkrämpige Schlapphut und die hohen Stiefel bilden, und in ihrer Sprache sind sie noch weniger wählerisch. Aber sie werden mit einem ihrer Gewohnheitsflüche auf den Lippen auch auf Brautwerbung gehen, oder einem Nebenmenschen mit Gefahr des eigenen Halses das Leben retten, ja wohl gar zu einer doppelten Dosis dieses kräftigen Sprachgewürzes greifen, wenn der Gerettete sich nachträglich eines mehr als wünschenswerth wortreichen Dankergusses schuldig machen sollte. Sie sind nun einmal so, diese „Menschen da draußen“, rauh, ungestüm und leidenschaftlich, und die sechsläufige Taschenwehr thut unter ihnen beim Branntwein und am Spieltisch gar manches vorschnelle und bei der allgemeinen Sicherheit in ihrer Handhabung nur zu oft nie wieder gut zu machende Werk.

Eine Welt für sich in der Bevölkerung und der Pionniercivilisation des Felsengebirgswestens bildet das Mormonenreich am großen Salzsee. Von ihm, seiner Hauptstadt, seinem Gründerpropheten und seiner durch ein Wunderwerk künstlicher Bewässerung in’s Leben gerufenen Ackerbau-Oase am Ostrande der Riesenwüste des großen continentalen Binnenbeckens weiß die Welt seit Jahren. Aber das Reich und die Hauptstadt sind heute nicht mehr das, was sie unter der Leitung des Propheten waren. Mit dem Tode Brigham Young’s hat auch das neue Juda jenseits der Felsengebirge seinen Tod bekommen. Als der in seiner Art so gewaltige, ja geradezu einzige Mann im Frühjahre 1877 gebrochenen Herzens über das Eindringen der Außenwelt in seine kirchlich-autokratische Sonderschöpfung starb, hat das Mormonenthum nicht nur den Kopf, es hat auch den lebendigen Theil seines Inhalts verloren. Aus der Garten- und Tempelidylle von Salt-Lake-City aber, die noch vor zehn Jahren keine Straßenbeleuchtung kannte, und in der man Wein und Branntwein nur in der Apotheke und um Apothekerpreise kaufen konnte, ist eine lärmende Felsengebirgsstadt geworden mit elektrischen Lichtern, Spielhäusern, Trinkstuben, Tingeltangels und allen sonstigen Tummelplätzen echtesten Heidenthums. Die Erschließung reicher Edelmetallminen und der Dampf haben auch hier ihre den ganzen Großen Westen revolutionirende Rolle mit stets wachsendem Ungestüme gespielt, die Regierung der Vereinigten Staaten hat gleichfalls mit immer fühlbarerem Nachdrucke ihre Hand auf das einen Staat im Staate anstrebende Gemeinwesen gelegt, und die Tage dieser ursprünglichen „Heiligenwirthschaft vom jüngsten Tage“, welche der neue Moses im Jahre 1847 auf damals noch mexicanischem Boden für immer zu begründen vermeinte, sind gezählt. Es ist in erster Reihe nur noch die Gewohnheit – die allmächtige Gewohnheit und die äußerliche Prosperität, was den merkwürdigen Bau zusammenhält. Diese äußerliche Prosperität freilich fällt in Ansehung der Stätte, an welcher, und der Mittel,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_762.jpg&oldid=- (Version vom 25.11.2023)