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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

seiner schmalen Sohle und seinem spitz zulaufenden Vorderende, der zu eng anliegende Leib (Gilet, Jacke, Polonaise etc.) des Ueberkleides und das Festbinden des Schooßrockes, der Unterröcke und der Unterbeinkleider.

Wir wollen nicht nur des Festmieders[WS 1] gedenken, das bekanntlich schon vielen Damen das Leben verkürzt hat und dessen Folgen ein schlechter Magen, eingefallene Wangen, ein feuerrother und unreiner Teint, ein verkrümmter Rücken und das Schwinden aller körperlichen und geistigen Spannkraft sind; nicht nur des Engschnürens, das die inneren Organe verrückt, den Brustkasten und die Taille verunstaltet, das Athmen erschwert, jede gesundheitliche Bewegung zur Qual macht, die Herzthätigkeit und die Verdauung schwächt, das Gehirn und das Blut verschlechtert und eine Menge von Leiden herbeiführt, bei deren Auftreten man die Ursache gewöhnlich in allen anderen Umständen eher sucht, als in dem stählernen oder fischbeinenen Ungeheuer. Wir wollen auch von dem lose getragenen Mieder sprechen und betonen, daß dasselbe ebenfalls verwerflich ist, denn die Schwere der Kleider läßt es von seinem richtigen Platze herabgleiten und auf das Becken drücken, also einen Schaden ermöglichen, der das ganze Lebensglück zerstören kann, abgesehen davon, daß die meisten Mädchen, selbst wenn ihr Wille gut ist, sich über das Maß der Lockerheit zu täuschen pflegen; man messe den Körperumfang nur während tiefen Einathmens, und man wird sehen, daß es am besten ist, gar kein Schnürleibchen zu tragen. (Elastische Mieder sind freilich nicht so arg wie die üblichen, allein wie wenige tragen sie!)[1]

Aber selbst das genügt nicht, so lange das Ueberkeid (Gilet, Jacke, Polonaise etc.) zu eng ist, und ist auch dies nicht der Fall, so stiftet das Festbinden der Wäschstücke und des Schooßrockes noch immer genüg Unheil, indem es ebenfalls zu Verwachsungen führt. Manche Mädchen sind so schlank, daß Wäsche und Kleider, so lange man sie überhaupt bindet und nicht knöpft, eng gebunden werden müssen, sollen sie nicht über die schmalen Hüften hinabfallen.

In Mädchenschulen vorgenommene Messungen haben ergeben, daß bei drückender Kleidung innerhalb sechs Monaten die Höhe und der Brustumfang um je 1 bis 2 Zoll zunahm, die Taille aber gar nicht wuchs, während dort, wo kein Druck gestattet war, der Brustumfang um 11/2 bis 2, der Vorderarm um 3/4, der Arm um 1 bis 11/4 und die Taille um 31/2 bis 4 Zoll größer wurde, abgesehen davon, daß die allgemeine Gesundheit und der Grad der Stärke in den beobachteten Fallen viel befriedigender waren, wo kein Körpertheil eingepreßt werden durfte.

Vielen Müttern, die nicht die Absicht haben, ihre Töchter zu verkrüppeln, mißlingt ihr Plan, weil sie beim Maßnehmen vergessen, daß, was bei einer gewissen Haltung locker ist, bei einer anderen zu eng wird. Beim Maßnehmen steht das Mädchen aufrecht; in dieser Stellung und wenn die Lungen verhältnißmäßig leer sind, mißt es um die Taille, nehmen wir an, 21 Zoll; dasselbe Mädchen wird aber sofort um 11/2 Zoll mehr messen, wenn es eine tiefe Einathmung vornimmt, und beugt es sich auch noch vor, so kommen weitere 11/2 Zoll Taille- oder Brustumfang hinzu. In der Schule sitzen Mädchen aber vielfach vorgebeugt, sodaß ihnen Kleider zu eng werden, die während des Stehens weit genug sind.

Was schließlich die Fußbekeidung betrifft, so ist das Uebel nicht so erheblich, weil das Tragen von schädlichen, widernatürlichen Schuhen doch wohl nicht so allgemein ist, wie das von verwerflichen Kleidungsstücken anderer Art; allein die Anzahl der Sünderinnen ist auch in diesem Punkte immerhin eine ungeheure. Um wie viel schöner, eleganter und – bequemer ist ein natürlicher Fuß im Gegensatz zu dem erkünstelten, verwachsenen Ergebniß des Tragens von „Pariser“ Schuhen! Wie bitter rächt sich diese falsche, an die chinesischen Lächerlichkeiten erinnernde Eitelkeit durch Hühneraugen – sollen diese etwa elegant sein? –, durch Schmerzen beim Auftreten und durch die Unmöglichkeit, rasch und lange zu gehen! Wie blöde, den Schwerpunkt zu verlegen und das Gewicht des Körpers auf die Zehen zu concentriren! Um wie viel besser, schöner, gesunder sind den Geboten der Natur angepaßte Schuhe!

Wir haben gesehen, welche Nachtheile die moderne Frauenkeidung im Gefolge hat. Wir haben gesehen, daß das Blut durch ungenügendes Athmen verschlechtert, daß in Folge dessen das Hirn geschädigt wird, daß als weiteres Ergebniß die Lungen ihr Blutreinigungswerk nicht gehörig besorgen können und daß auf Grund all dessen jede anstrengendere mechanische und geistige Arbeit überflüssiger Weise ungemein erschöpfender gemacht wird, als sie es unter anderen Verhältnissen wäre. Kurz, im Vorstehenden haben wir von dem Uebel „Mode“ gesprochen; und nun wollen mir uns mit der Abhülfe beschäftigen.


2. Die Abhülfe.
„Aller Anfang ist schwer“.

Bekanntlich ist die „Frauenfrage“, von Nordamerika abgesehen, in keinem Lande so sehr fortgeschritten wie in England. Seitdem die Frauen nicht mehr ausschließlich als Sclavinnen oder Puppen betrachtet werden, seitdem sie mehr und mehr darnach streben, ihr Brod selber zu verdienen, ist das Bewußtsein von der Wichtigkeit der Kleiderfrage beträchtlich gestiegen. Sie sind sich des Uebels der modernen Kleidung bewußt, haben aber in der Regel nicht den Muth, nach ihrer Ueberzeugung zu handeln.

Glücklicher Weise giebt es immerhin eine gewisse Anzahl vorurtheilsloser Damen, die sich nicht fürchten, eine Reform anzustreben. Wenn diese Bestrebungen bisher erfolglos geblieben sind, so hat das seinen Grund nicht nur in der Verstocktheit der Modethörinnen und in der Vorliebe der meisten Menschen für den lieben „alten Schlendrian“, sondern auch darin, daß die Umwälzungscandidatinnen es nicht verstanden haben, Vorschläge zu machen, die radical gewesen wären und zugleich die angeborene Gefallsucht des schönen Geschlechts genügend berücksichtigt hätten. Man hat nämlich hauptsächlich vorgeschlagen, die Frauen sollten Männerkeider tragen; diese aber dünken der Damenwelt nicht genug geschmückt und verziert. (Nur zur Annahme der häßlichsten und unangenehmsten aller männlichen Toilettestücke, des Cylinderhutes, den selbst die meisten Männer schmähen, haben sich die Damen entschlossen!)

Die zuweilen von Aerzten gegebenen Winke hinwiederum sind unbeachtet geblieben, weil sie sich in der Regel nur auf unbedeutende Details bezogen, ohne das Uebel bei der Wurzel zu fassen, das heißt eine gründliche Aenderung der der Frauentracht zu Grunde liegenden unheilvollen Principien zu fordern. Die Amerikanerin Mistreß Bloomer, die vor einiger Zeit eine männerähnliche, aber der Männerkeidung doch nicht ganz gleichkommende Tracht erfand, scheiterte, weil diese wirklich häßlich war.

Aus alledem geht hervor: erstens, daß es sehr schwierig ist, bei einer solchen Reform das Richtige zu treffen; zweitens, daß jede neue Tracht, wenn sie dem Uebel gründlich abhelfen soll, auf durchaus anderen Grundsätzen beruhen muß, als die jetzigen Moden; drittens, daß kein Reformvorschlag auf allgemeine Annahme rechnen kann, der nicht bei aller Gesundheit, Beguemlichkeit und Zeitersparniß die Gesetze der Schönheit im Auge behält, denn die meisten Weiber werden zu allen Zeiten den Wunsch hegen, sich zu putzen, sei es mit Beachtung oder mit Außerachtlassung der Forderungen der Vernunft. Es giebt Frauen genug, die kein Schnürleibchen tragen und denen nichts am Schnitte ihrer Kleider liegt, so lange diese nur recht lose sind; aber dieses Beispiel findet nicht allgemeinere Nachahmung, weil die betreffenden Kleider


  1. Das Schnürleibchen wie es sein soll.

    Wir verweisen bei dieser Gelegenheit auf den im Jahrg. 1855 erschienenen Artikel „Die weibliche Kleidung“ von Prof. Bock, in welchem unter Anderem Folgendes zu lesen ist: „Sollen nun die großen Nachtheile, welche das Zusammenschnüren der Oberbauchgegend nach sich zieht, wegfallen, dann muß das Corset so eingerichtet werden, daß es nur unterhalb dieser Gegend und oberhalb der Hüften den Leib zusammenschnürt, wodurch auch die Taille verbessert und dem Unterleibe ein sicherer Halt gegeben wird. Deshalb dürfte das hier abgebildete Schnürleibchen empfehlenswerth sein. Es wird nur an einer kleinen Stelle (b) geschnürt, darüber (c) und darunter (d) locker gebunden: am Hüftausschnitte (a) läßt sich nach Belieben eine künstliche Hüfte ansetzen, um die Unterkleider tragen zu helfen; an jedem Seitentheile ist ein breiter elastischer Streifen (e) eingesetzt, um das Ausdehnen der Oberbauchgegend zu erleichtern.“
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Festmiederns
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 510. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_510.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2024)