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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

festester Treue umschließt Alle – bis nach wenigen Tagen die verrinnenden Wellen der Zeit sie aus einander schleudern, und fremd, wie vorher, geht ein Jeder seinen Weg.

Ida stellte sich vor, wie der Schreck von der plötzlich aufspringenden Böe nachwirkte. Die Eine mühsam lesend, die Andere seekrank – und selbst von den Herren fand keiner Courage zu einer flotten Unterhaltung, sie sitzen einzeln umher, sehen die blanken Lampen in ihren Doppelringen schaukeln und hören die brausende See gegen die Schiffswandung klatschen; aber keinem fällt es ein, wie wonnig, wie großartig eine unruhige Nacht auf dem Meere sei.

Goldene Funken sprühten im Kielwasser, verschwanden blitzschnell und glitzerten an anderen Stellen auf. Das junge Mädchen beugte sich über Bord, das Funkenspiel entzückt betrachtend, doch eine Berührung wie die vom Fittich eines Nachtvogels wandte ihren Kopf zur Seite, dort stand eine Männergestalt, deren flatternder Mantel das Mädchen berührt hatte.

Es bedurfte beiderseits keines Wortes, um überzeugt zu sein, die beiden Gestirne, welche bei Tische unglücklicher Constellation halber dem Gesetze der Attraction nicht folgen konnten, seien urplötzlich in jene Nähe gerückt, wo diese Kraft ungehindert wirken könne. So dauerte es denn nicht lange, und die Beiden saßen tief drinnen in jenem Gedankenaustausch, der über die schwierigsten Fragen und Probleme des Lebens Betrachtungen anstellt, der die ernstesten Sachen in sein Bereich zieht, nur nicht die Liebe. Während aber dieser eine Punkt hartnäckig umgangen wird, schickt der beflügelte Schelm seinen Pfeil desto sicherer in die jungen Herzen ab. Halt, so weit waren die Leutchen noch lange nicht.

Die See brauste unter ihnen, und über ihren Häuptern ging der Wind, der „Neptun“ stampfte und stieß in dem hohen Seegange, daß manches Wort abgeschnitten wurde, ehe es die Lippe passirte.

Der junge Mann drückte seine Freude aus, in Fräulein Ida eine gleich empfindende Bewunderin der Natur zu finden, und sie dagegen erzählte, sie sei Onkel Dresing unendlich dankbar, daß er sie aus Deutschland mitgenommen habe. Allein, ohne Vater und Mutter stand sie, als Onkel und Tante Dresing mit ihren kleinen Mädchen und dem weißen Pinscher aus Boston herüberkamen, um in Wiesbaden für Onkels Rheuma Heilung zu suchen. Schon die Rheinfahrt sei köstlich gewesen, und in Düsseldorf gab’s so viele herrliche Bilder zu schauen, daß die Augen schier verwirrt wurden. Schöner aber als alle Bilder sei die schöne Welt selber, und eine Meerfahrt wie diese das Herrlichste von allen.

„Leicht wird der Geist und frei die Seele,“ rief sie, „ich möchte tauchen können bis zum geheimnißvollen Grunde und fliegen mit dem Sturm um die Wette gen Westen, wo unser Reiseziel.“

„Ja, in das Land der Freiheit, des Fortschritts,“ fiel der Maler ein

„Reden Sie Amerika das Wort?“ fragte die junge Dame neugierig, „ich hörte sagen, die Kunst habe keine Stätte im Lande des Dollars. Onkel Dresing will das freilich nicht gelten lassen, aber er brachte keine Gegenbeweise ein.“

„Und wäre es bis jetzt auch so, was thut’s?“ rief der junge Mann. „Nordamerika ist im Werden begriffen und wird rasch zu dem Höhepunkt des Ideals emporsteigen. Schon haben die Wissenschaften festen Fuß gefaßt in dem jungen Volke, und mächtig durchdringen sie alle Schichten der Bevölkerung. Die Wissenschaften aber sind Vorläufer der schönen Künste. Ist der Geist befriedigt, tritt das schönheitsdurstige Herz in die Schranken. Allbereits regt es sich da und dort. Nordamerika steht im Frühlicht seines Tages, in Europa aber leuchtet die goldene Abendsonne.“

„Und wir schaukeln zwischen zwei Welten auf dem unendlichen Meere,“ sagte Ida nachdenkich. „Werden wir das Land der Verheißung erreichen?“

„Ja und nochmal ja,“ rief der junge Mann feurig, seine Hand suchte einen Moment die ihre. „Am Hudson, in den Katskillbergen und den weiten Prairien des Westens werde ich dieser Stunde gedenken. Gedenken auch Sie ihrer?“

Wer weiß, wohin das Pärchen sich verirrt haben würde, wenn nicht in diesem Augenblicke ein langgezogener Ruf durch die Dunkelheit gedrungen wäre.

„Hohei, aufgepaßt, Schiff in Sicht!“ schrie eine Stimme vom Ausguck vorn auf der Back, und sofort ward es auf Deck unruhig. Aber es zeigte sich nicht jene gemessene Unruhe, welche jedem wohlberechneten Manöver vorangeht, sondern eine unstete peinliche Bewegung, die dem sicheren Hantiren der Seeleute sonst fremd ist. Zuglelch klingelte es wieder einmal schnell hinter einander neben dem Steuerrade.

„Das ist der Tingeltangel,“ flüsterte das junge Mädchen.

„Wa–a–a–s?“ fragte ihr Nachbar.

„Der Tingeltangel, ich weiß es genau,“ erwiderte Ida.

„Hat der verdammte Kerl keine Lichter außen?“ schrie es von der Commandobrücke.

„Nein, kein Licht zu sehen,“ lautete die Antwort zurück.

Daß der Capitain und erste Officier auf der Brücke die Augen durch die Gläser schier überanstrengten, um Lage und Cours des begegnenden Schiffes zu erkennen, konnten die Beiden hinter dem Heck nicht gewahren, ebenso wenig wie sie die kräftigen Flüche der beiden verantwortlichen Seemänner hörten. Nur daß etwas Außerordentliches vorgehe, daß eine Gefahr drohe, fühlten sie Beide, und ihr Athem stockte.

Wieder ein leiser Klang im Ruderhause, und die beiden Quartiermeister am Steuer gaben, unterstützt von zwei Matrosen, „Backbord Ruder hart“. Ein stummer, erwartungsvoller Augenblick, der das Blut in den Adern erstarren ließ, ein Moment, der über Sein und Nichtsein entschied, und – mit enger Kurve Steuerbord ausbiegend – entging der brave „Neptun“ der drohenden Collision. Und hohe, ja die höchste Zeit war es gewesen, denn fast streifte der Schnabel des Dampfers den Bug des pflichtvergessenen Seglers, der nun, ohne Signallaternen noch sonstige Beleuchtung zu zeigen, nahe vorbeiglitt. Seine Masten ragten in den schwarzen Nachthimmel unheimlich empor.

„Gewiß ein gottverlassener Spanier, oder gar ein verdammter Türkenhund!“ sagte ein alter Matrose, welcher über das Hinterdeck ging.

„Sagt doch, guter Freund, war die Gefahr groß?“ redete ihn der Landschafter an.

„Groß genug,“ brummte der Alte, „daß wir in fünf Minuten Alle mit einander in hundert Faden Tiefe ’nen Contretanz aufführen konnten.“

„Noch eine Frage erlaubt! Kurz ehe der Dampfer ausbog, gab es einen – einen Tingeltangel –“

„Ja, was ist ein Tingeltangel?“ fiel Fräulein Ida ein.

Der Alte schmunzelte.

„Ein Tingeltangel, meine Herrschaften ist ein telegraphisches Donnerwetter für Die, welche am Steuer stehen. Es heißt so viel, als: ‚Ihr verfluchten Kerle, wollt Ihr wohl besser auf den Cours passen; wenn Ihr nicht genauer Acht gebt, werde ich Euch mal gehörig den Kopf waschen lassen.‘ Dieses Donnerwetter kommt vom Capitain auf der Commandobrücke, und die Leute am Steuer verstehen es ganz genau. Sonst noch Befehle?“

„Nein, wir danken!“

„Na, dann geh’ ich an die Arbeit, der Wind ist herumgegangen, da müssen wir die Röhren versetzen.“

Der grauhaarige Seemann begann mit mehreren Cameraden die zahlreich auf Deck verstreut stehenden Röhren, die am andern Ende zu einer riesigen Schallmuschel geweitet schienen, zu drehen und zu wenden.

„Um Gotteswillen,“ rief Fräulein Ida, „welch neue Gefahr droht, daß die schrecklichen Rohre in Anwendung kommen müssen? O, bleiben Sie bei mir! nein, fragen Sie, was zu befürchten steht; ich eile hinunter, Tante bei den Kindern zu helfen.“

Nun that der Officier, welcher an dem großen Compaß beobachtend stand, zum ersten Mal den Mund auf.

„Aengstigen Sie sich nicht, es sind die Ventilationsröhren, die Ihnen in Salons, Kajüten und in alle vier Decks frische Luft schaffen. Der Wind hat sich gedreht, folglich müssen die Röhren auch gedreht werden, um den Wind aufzusaugen.“

„Ach so,“ kam es merkwürdig erleichtert aus der Brust des jungen Mädchens. Aber die holde Zwiesprach angesichts des nächtlichen Oceans blieb gestört, außerdem läutete eben die Glocke zum Abendessen.

Einige hundert Meilen weiter westwärts dampfte der „Neptun“. Die alte Welt und das Land der Verheißung, beide lagen in gleicher Entfernung tief unter dem Horizonte, auf dem Höhepunkte der Erdkugel schwebte der „Neptun“. Heiter strahlte die Sonne

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_439.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)