Seite:Die Gartenlaube (1883) 262.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten.[1]

Von Udo Brachvogel. Mit Illustrationen von Rudolf Cronau.
I.
Vor dreißig Jahren. – Zwischen Mississippi und Pacific. – Dampf-Civilisation. – Der „Neue Nordwesten“ und sein Verkehrs-Heerweg. – Die Weizenländer des Redriver. – Ueber den Missouri. – Die „Bad lands“ des Little Missouri.

„There is the East – there is India!“[2]

Mit diesen vor dreißig Jahren unter der Kuppel des Saint Louiser Stadthauses gesprochenen Worten eröffnete der große Missourier Thomas Benton jene historisch gewordene Rede, in welcher er als Erster den Muth und die staatsmännische Voraussicht hatte, den Bau einer vom Mississippi nach dem Stillen Ocean führenden Ueberlandbahn zu fordern und vorherzusagen. Vor dreißig Jahren! Wer wollte heute noch sagen, wie Vielen von ihren damaligen Hörern diese Worte nicht widerspruchsvoll erschienen? Widerspruchsvoll bis zur Verwegenheit – denn nicht genug, daß dieses: „Dort ist der Osten!“ mit westwärts gewendetem Antlitz gesprochen ward, es wurde auch von einer so energischen Handbewegung nach demselben Westen, nach dem eben aus einer weltverschollenen Thule zu einem weltgestürmten Dorado gewordenen Californien, begleitet, als wollte mit ihr ein jüngerer Columbus der Welt noch einmal jene gerade Meerstraße nach Ostindien weisen, in deren Mitte sich ihrem ersten Befahrer einst der große Westcontinent des Erdballs in den Weg geworfen hatte.

Und warum nicht ein jüngerer Columbus? Zieht man in Betracht, was der westlich vom Mississippi sich hindehnende, mehr als zwei Drittel des gesammten Unionsgebiets umfassende „Große Westen“ vor dreißig Jahren war, und was er heute ist, so wird man immerhin etwas Welterschließendes in dieser ersten Benton’schen Formulirung der Forderung einer Pacificbahn erblicken dürfen, an deren Ende sich thatsächlich jener Ocean und auf ihm jener offene Weg nach Indien und dem Orient dahinbreitet, welchen der Amerika findende Genuese dereinst umsonst gesucht hatte. Und wie seiner Zeit dieser Letztere nur wenig Jahre brauchte, um zu beweisen, daß er auf der richtigen Weltfährte gewesen, so sollte es auch für den ersten und frühesten Träumer einer amerikanischen Transcontinentalbahn nur einer ganz kurzen Zeit bedürfen, um ihre anscheinend kühnen Behauptungen vom Schlage des Benton’schen: „Dort ist der Osten – dort ist Indien!“ als das einfachste Ding der Welt erscheinen zu lassen.

Nur einer ganz kurzen Zeit – sehen wir etwas näher zu, wie das, und wie schnell es dabei herging. Mehr als zwei Drittel des gesammten Landbesitzes der Union liegen westlich vom Mississippi, und noch in der ersten Zeit unserer Generation galten die unmittelbaren westlichen Uferländer dieses Stromes für den äußersten Grenzstrich eines halb fabelhaften Gebietes, unter dem man sich ein für immer der eingeborenen Rothhaut verfallenes Riesenwirrsal von Prairien, Hochsteppen, Alpenketten, Wüsteneien und sonstigen Wildnissen vorstellte, in dem weder der kriegerisch- noch der friedlich-erobernde Kaukasier jemals ordentlich Fuß fassen werde.

Die Entdeckungsreise von Lewis und Clark, welche 1805 die Quellen des Missouri gefunden und selbst den Columbia bis zu seiner Mündung in den Stillen Ocean verfolgt hatten, stand in der Geschichte mehr als romantische Wagefahrt und Leistung persönlichen Muths, denn als eine im Dienst der Civilisation vollbrachte Großthat da. Und noch in den vierziger Jahren konnte der Zug Fremont’s über die Felsengebirge seinem Vollbringer den nationalen Ehrentitel eines Pfadfinders nicht so sehr wegen der praktischen Vortheile, welche er dadurch der Welt erschlossen hatte, als vielmehr der Gefahren und Abenteuer halber eintragen, welche damit verknüpft gewesen. Erst der im Frühjahr 1848 aus den Westabhängen der Sierra Nevada über Amerika und Europa dringende Weltalarmruf „Gold“ brachte den Namen Californien auf alle Lippen, entriß mit einem Schlage den fernsten pacifischen Rand dieses westlichen Riesengebiets seiner Verschollenheit und nahm bald auch diesem letzteren selbst durch den großen Land-Argonautenzug, der sich in einer Länge von zweitausend Meilen über die Prairien, Felsengebirge, Wüsten und Sierras nach dem neuen Schätzelande entfaltete, seine ersten und übertriebensten Geheimnisse.

Aber das Gold allein that es dieses Mal doch nicht. Es bedurfte noch anderer, noch unmittelbarer und nachhaltiger sich geltend machender Beweggründe, um die wirkliche Eroberung des Großen Westens anzubahnen. Aus dem bloßen Goldlande am Pacific entpuppte sich im Laufe weniger Jahre ein unschätzbares Weizen- und Weinland mit einem mächtig aufstrebenden Handel und einer mit ihm in gleichem Schritte aufblühenden Handelscapitale. Im Innern des Continents, in den Wüstenbergzügen zwischen den Felsengebirgen und der californischen Sierra Nevada, wurden beständig neue Minengebiete erschlossen, denen neue Bevölkerungen zuströmten. Gleichzeitig aber lieferten die Mormonen mit ihrer wunderbaren Kirchen- und Ackerbauschöpfung am Salzsee den Beweis, daß in diesem nämlichen Wüsteninnern des Continents sich auch noch weitaus stabilere Culturvorbedingungen finden ließen, als unzuverlässige Gold- und Silberlager. Und dann kam der große amerikanische Bürgerkrieg und mit ihm die durch den Abfall des Südens der Nation ertheilte Lehre: daß ihre neue pacifische Domäne noch durch ein stärkeres als nur ein goldenes, durch ein eisernes Band an die östlichen Stammgebiete der Union zu knüpfen sei.

Damit war das Sesamwort für den Großen Westen gefallen, und als ob er dieses Rufes nur geharrt hätte, trat der moderne Reiche-Eroberer Dampf in diesen noch halb vom Schleier der Sage umwallten Gebieten seine Erschließer-Mission mit einem Ungestüm an, welches Amerika selbst in Staunen versetzte, die alte Welt aber vollends bald nur noch von einem neuen Weltwunder sprechen ließ. Dasselbe sollte schnell genug eine vollendete Thatsache sein. Nur vier Jahre nach Beendigung des Bürgerkrieges, und es stand fertig da. Das Frühjahr 1869 brachte das große Schauspiel der ersten, auf ununterbrochenen Schienengeleisen vom Missouri bis zum Sacramento jagenden Locomotive. Die seitdem verflossene Zeit von nur dreizehn Jahren aber hat hingereicht, dem Weltwunder genug Neu-Auflagen zu geben. Nicht weniger als fünf vollständige Ueberlandbahnen, die in Kurzem auf sechs und sieben angewachsen sein mögen, überbrücken in diesem Augenblicke den Großen Westen auf die zweitausend Meilen hin, die den Mississippi vom Stillen Ocean trennen. Und nicht genug mit dieser fünffachen Einschienung von Osten nach Westen – auch unter und zwischen den eisernen Hauptheerwegen derselben hat der bahnenbauende Unternehmungsgeist in den letzten Jahren eine derartig fiebernde Thätigkeit entwickelt, daß dies ganze ungeheure Gebiet demnächst von Norden nach Süden ebenfalls in das geschlossenste Schienennetz eingesponnen und eingefangen sein wird, in welches die moderne Culturspinne Dampf noch je ein neues Weltgebiet eingefangen hat.

Die jüngste der Civilisations-Vollbringungen, welche man diesem gigantischen Eisenbahnbau im Großen Westen zu verdanken hat, besteht in der Erschließung des Neuen Nordwestens durch die Pacificbahn. An Flächeninhalt etwa das Doppelte des deutschen Reiches umfassend, erstreckt sich der unter diesem Namen verstandene Landgürtel von den canadischen Seen und dem oberen Mississippi über die Gebiete von Minnesota, Dacotah, Montana, Idaho, Oregon und Washington-Territorium bis an den Puget-Sund und die Mündung des Columbia in den Stillen Ocean. Wer hätte von dieser ganzen nordwestlichen Region, mit etwaiger Ausnahme West-Oregons und Minnesotas, noch vor zehn Jahren in einem andern als rein geographischen Sinne sprechen gehört? Und heute? Heute haben sie bereits mit Glanz ihren ersten Schritt über die Schwelle gethan, welche die Wildniß vom Culturbereiche trennt; hat die amerikanische Großviehzucht mit ihren unübertrefflichen Weidegebieten zu rechnen angefangen; haben sie als Kornkammern bereits ihr Wort auf dem Weltmarke mitzusprechen begonnen!

Und nun zu den Gebieten selbst, welche dieser neueste amerikanische Ueberlandweg über Nacht in Bann und Dienst des


  1. Unter Meilen sind in diesen Artikeln stets englische Meilen verstanden, von denen 46/10 auf die deutsche Meile gehen.
  2. „Dort ist der Osten – dort ist Indien!“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_262.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2023)