Seite:Die Gartenlaube (1883) 105.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

No. 7.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Lily begann sich jetzt ihres Aberglaubens zu schämen. Der junge Baron sah nicht aus, als ob er sich so ohne Weiteres der seltsamen Manie seines Onkels fügen werde, die bekanntlich darin bestand, den Leuten den Hals umzudrehen. Sie war einigermaßen beruhigt über sein Schicksal; deshalb faßte sie vorsichtig die Zipfel ihres Taschentuches zusammen, das die Nüsse barg, und erklärte, daß sie in das Dorf zurückkehren müsse.

„Ich gehe gleichfalls dorthin,“ sagte Paul. „Ich beabsichtige dem Herrn Pfarrer einen Besuch zu machen.“

„Meinem Vetter Gregor?“

„Ah, Sie sind eine Verwandte des geistlichen Herrn? Dann wohnen Sie vermuthlich auch im Pfarrhause?“

„Nein, ich wohne in Rosenberg; ich bin nur heute mit meiner Schwester zum Besuche in Werdenfels.“

Paul blieb plötzlich stehen, und sein Gesicht verklärte sich förmlich.

„Mit Ihrer Schwester, der Frau von Hertenstein?“

„Ja – Sie kennen ihren Namen?“

„Gewiß! Ich hatte das Glück, ihr Reisegefährte zu sein. Hat die gnädige Frau nichts davon gegen Sie erwähnt?“

„Keine Silbe!“ versicherte Lily, die nicht begriff, wie man eine derartige Bekanntschaft verschweigen konnte.

Paul sah etwas enttäuscht aus. Also nicht einmal sein Name war genannt worden, aber er wußte jetzt, was ihm in den Zügen des jungen Mädchens schon damals bei der ersten flüchtigen Begegnung aufgefallen war. Es war die Aehnlichkeit mit der Schwester gewesen; nur der Name Vilmut hatte ihm fremd geklungen. Aber Lily gewann jetzt, wo er entdeckte, daß sie dem Ideal seiner Träume so nahe stand, eine ganz andere Bedeutung für ihn.

Er erzählte ihr von dem Zusammentreffen in Venedig und fand es ungemein merkwürdig, daß der Zufall ihn hier mit der Frau von Hertenstein wieder zusammenführte. Lily, die nicht wissen konnte, daß er eine halbe Stunde im schärfsten Galopp geritten war, um diesen Zufall in Scene zu setzen, fand das gleichfalls merkwürdig und hatte nichts dagegen, daß er sich ihr anschloß, und so langten sie denn gemeinschaftlich und mit den Haselnüssen im Pfarrhause an.

Der Pfarrer und Anna befanden sich im Studirzimmer des Ersteren, und Lily führte ihre neue Bekanntschaft dort ein. Unter anderen Umständen hätte sie wohl eine Strafpredigt des gestrengen Vetters gefürchtet, der es sicher sehr unpassend fand, daß sie in Begleitung eines fremden jungen Mannes erschien. Da es sich aber hier um einen Bekannten ihrer Schwester handelte, so glaubte sie sich hinreichend entschuldigt und stellte den Herrn Baron von Werdenfels vor, der dem Pfarrer einen Besuch machen wollte und dem sie am Schloßberge begegnet sei. Die Geschichte mit den Nüssen wurde dabei selbstverständlich verschwiegen.

Paul trat näher; er bemerkte nicht das eisige Befremden des Geistlichen bei der Nennung seines Namens, bemerkte nicht einmal die peinliche Ueberraschung der Frau von Hertenstein bei seinem Erscheinen; er sah nur das Antlitz, das ihm in der letzten Zeit auch nicht einen Augenblick aus der Erinnerung gewichen war, und seine Augen strahlten bei diesem Wiedersehen in so unverkennbarer Glückseligkeit, daß die kleine Lily sehr verwundert dreinschaute und sich ihre eigenen Gedanken über diese Reisebekanntschaft zu machen begann.

Vilmut hatte sich erhoben und war dem Gaste einen Schritt entgegen gegangen, aber er sprach nicht ein einziges Wort der Begrüßung oder des Willkommens und überließ es dem jungen Manne, sich selbst einzuführen. Dieser wiederholte, was er schon Lily erzählt hatte, daß er im Schlosse gewesen sei und sich das Vergnügen nicht habe versagen wollen, bei dieser Gelegenheit auch den Herrn Pfarrer von Werdenfels kennen zu lernen, welchem er durch seine nahe Verwandtschaft mit dem Gutsherrn ja kein Fremder sei.

Vilmut hörte das alles an, ohne eine Miene zu verziehen; dann wiegte er das Haupt und sagte frostig:

„Gewiß, Herr Baron!“

Aber in seinem Gesicht stand deutlich die Frage, welche seine Lippen allerdings nicht aussprachen, was der Besuch denn eigentlich bei ihm wolle?

Paul achtete anfangs nicht auf diesen seltsamen Empfang, weil er ganz andere Dinge im Kopfe hatte. Er fand den geistlichen Herrn sehr steif und über alle Maßen unliebenswürdig, übrigens aber war ihm derselbe höchst gleichgültig. Er wandte sich daher ausschließlich an Frau von Hertenstein und sprach ihr seine Freude aus, sie wiederzusehen. Er hatte natürlich keine Ahnung von ihrem Hiersein gehabt, aber er hoffte, sie werde ihm erlauben, die nur allzu flüchtige Bekanntschaft zu erneuern, und damit war er im vollen Fahrwasser seiner Liebenswürdigkeit und zog alle Schleusen derselben auf, ohne sich weiter um den langweiligen Geistlichen zu kümmern.

Aber Gregor Vilmut war nicht der Mann, der sich so ohne Weiteres ignoriren ließ. Einige Minuten lang beobachtete er

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_105.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)