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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

entsetzt in die Tiefe, die sich zur Rechten des Weges aufthat, während zur Linken die Felswand emporstieg. Die Fahrstraße war zwar in einem vorzüglichen Zustande und die kleinen, aber kräftigen Bergpferde trabten munter und sicher dahin; trotzdem gehörte die Fahrt an diesem düsteren und nebelumschleierten Herbsttage nicht zu den angenehmen, und auch Paul Werdenfels, welcher in der Ecke des Wagens lehnte, schien sehr übler Laune zu sein.

„Wenn das so fort geht, werden wir wohl endlich bei den Schneegipfeln da oben anlangen,“ sagte er ärgerlich. „Hatte ich nicht Recht, mich gegen die Fahrt nach dem verwünschten Felseneck zu sträuben? Wir müssen in unmittelbarer Nähe sein, und noch sieht man nicht das Geringste davon; so dicht ist das Schloß von den Wolken umlagert.“

„Und der Herr Onkel sitzen immer da oben in den Wolken?“ fragte Arnold. „Ein curioser Geschmack!“

„Du fandest es ja so nothwendig, daß ich wieder zu vernünftigen Menschen käme,“ spottete Paul. „Hältst Du es für so sehr vernünftig, sich auf diesem Felsen anzusiedeln, wenn man das schöne Werdenfels und noch drei oder vier andere Schlösser zur Verfügung hat? Gieb Acht, Arnold, wenn Dir da oben erst die Fledermäuse um den Kopf schwirren und die alten Raubritter der ehemaligen Burg Nachts in voller Gespensterrüstung umgehen, dann wirst Du noch die ‚gottlose‘ italienische Zeit und sogar den Signor Bernardo zurückwünschen!“

„Den gewiß nicht!“ sagte Arnold feierlich. „Denn der ist ärger als der ärgste Raubritter. Aber wenn es da oben auch noch so schlimm aussieht, Herr Paul, hinauf müssen wir doch. Der gnädige Herr Onkel haben es befohlen, und wir müssen ihn bei guter Laune erhalten; denn wir haben trotz all seiner Geldsendungen so viel Schulden gemacht, daß ihm die Haare zu Berge stehen werden.“

Paul stieß einen Seufzer aus.

„Wenn ich nur wüßte, wo das Geld eigentlich geblieben ist! Ich habe nie geglaubt, daß die Summen so riesig anwachsen würden. Die verwünschten Wucherzinsen!“

„Und der Signor Bernardo!“ ergänzte Arnold. „Der hat uns allein auf dem Gewissen. Wie oft habe ich nicht gewarnt und gebeten, aber der gottlose Mensch lachte mir in’s Gesicht, und Sie waren sein gelehriger Schüler. Sie –“

„Um Gotteswillen, fange nicht schon wieder an zu predigen!“ unterbrach ihn Paul. „Du weißt, es hilft doch nichts.“

„Aus meinem Munde freilich nicht, aber der Herr Onkel wird hoffentlich eine Predigt halten, die man nicht so ohne Weiteres in den Wind schlägt, und wenn er mich fragt, so werde ich ihm reinen Wein einschenken über unsere italienische Reise und über unsere sogenannten Freunde. Dann giebt es sicher einen Sturm, aber das geschieht Ihnen recht, Herr Paul, ganz recht; vielleicht hilft es auf eine Weile.“

„Ich glaube, Du bist im Stande, Dich darüber zu freuen,“ rief der junge Mann ärgerlich. „Untersteh’ Dich nicht, den Onkel noch mehr gegen mich aufzubringen! Es ist übrigens sehr die Frage, ob Du ihn zu Gesichte bekommst. So viel ich weiß, liebt er nicht den Verkehr mit Fremden.“

Arnold sah aus, als traue er seinen Ohren nicht. Er, der seit vierzig Jahren in den Diensten des Werdenfels’schen Hauses war und sich vollständig als ein Mitglied desselben betrachtete, der den jungen Herrn „erzogen“ hatte und jetzt gewissermaßen Vaterstelle bei ihm vertrat, er sollte den eigentlichen Chef des Hauses gar nicht zu Gesichte bekommen, sollte nicht wegen seiner Fürsorge und Umsicht belobt und in seinen Privilegien feierlich bestätigt werden! Das war unerhört, unmöglich! Welch ein Sonderling der Freiherr von Werdenfels auch sein mochte, einer solchen Mißachtung aller Tradition konnte er sich unmöglich schuldig machen.

Paul hatte inzwischen das Wagenfenster niedergelassen und sah hinaus, er erblickte aber freilich nichts anderes, als was er bereits seit zwei Stunden sah, nämlich dunkle Tannen und wogenden Nebel; auf einmal zeigten sich jedoch mitten in diesem Nebel die Umrisse eines Schlosses, das freilich nur einen Moment lang sichtbar war und dann in der Biegung des Weges wieder verschwand.

„Da ist ja das alte Eulennest!“ sagte der junge Mann. „Ich glaubte schon, wir würden es nie erreichen. Wenn es nur wenigstens bewohnbar ist! Es ist keine angenehme Aussicht, bei solchem Wetter zwischen triefenden Mauern mit Moos und Grasbüscheln zu wohnen, und die freundschaftlichen Besuche der Molche und Kröten zu empfangen.“

„Um Gotteswillen, glauben Sie das wirklich?“ rief Arnold erschrocken. „Das wäre ja schrecklich!“

„Aber originell!“ versetzte Paul kaltblütig, „und mein Onkel liebt nun einmal die Originalität über Alles. Da er selbst als Einsiedler lebt, so wird er wohl auch seine geehrten Gäste zu einem solchen Leben verurtheilen. Ich wenigstens mache mich auf Alles gefaßt. Wenn wir da oben auf einem Lager von Tannenzapfen schlafen und zum Diner nur Waldbeeren und Gletscherwasser erhalten, so – Ah! Das ist also Felseneck!“

Der letzte Ausruf verrieth eine so lebhafte Ueberraschung, daß Arnold schleunigst dem Beispiel seines jungen Herrn folgte und den Kopf auf der anderen Seite hinaussteckte. Der Wagen hatte soeben die letzte Windung der Bergstraße hinter sich gelassen, und unmittelbar vor ihnen lag nun das Reiseziel, das allerdings den gehegten Befürchtungen nicht entsprach.

Aus dem Nebel tauchte eine mächtige Burg auf, in mittelalterlichem Stile erbaut, aber offenbar neueren Datums, mit Thürmen und Zinnen, mit blinkenden Fenstern und einem hochgewölbten Eingangsthor. Sie hob sich ungemein wirkungsvoll ab von dem Hintergrunde der Felsen und Tannen, ein einsamer, aber jedenfalls ein stolzer Wohnsitz.

„Gott sei Dank, das sieht ja ganz menschlich aus!“ sagte Arnold aufathmend.

„Ein prachtvolles Bauwerk!“ rief Paul enthusiastisch. „Was hat Raimund aus dieser alten, halbverfallenen Ruine geschaffen! Ich war einmal als Knabe mit meinem Vater hier oben und erinnere mich noch deutlich des öden alten Gemäuers. Aber welch eine Riesensumme muß ein derartiger Bau gekostet haben – das ist ja mehr als großartig!“

Im Schlosse mußte die Ankunft des Erwarteten bereits bemerkt worden sein; denn die schweren Thorflügel waren weit geöffnet. Der Wagen rollte in den Schloßhof, der mit seinen vorspringenden Pfeilern und Erkern, seinen steinernen Gallerien und Treppen einen nicht minder imposanten Eindruck machte. Auch die Empfangsanstalten erwiesen sich als „menschlich“, wie Arnold sich ausdrückte. Zwei Diener in voller Livrée warteten am Fuße der Treppe, und auf derselben erschien ein alter Herr mit weißen Haaren in tadellos schwarzem Anzuge, der sich als Haushofmeister vorstellte und respektvoll den jungen Verwandten seines Herrn empfing. Er führte ihn sofort nach den bereit gehaltenen Zimmern, die in der Hauptfront des Schlosses lagen. Es waren zwei große, reich ausgestattete Räume, denen sich ein kleines Gemach für Arnold anschloß. Es fehlte nichts darin, was zur Bequemlichkeit des Bewohners dienen konnte, aber man sah und fühlte es, daß sie überhaupt zum ersten Male bewohnt wurden. Die Diener, welche das Reisegepäck heraufbrachten, kamen und gingen fast lautlos, und der Haushofmeister sprach so leise und gedämpft, daß Paul Mühe hatte ihn zu verstehen, als er nach den Befehlen des Herrn Baron fragte.

„Ich will vor allen Dingen zu meinem Onkel,“ entgegnete der junge Mann. „Ich habe ihm Tag und Stunde meiner Ankunft angezeigt; er erwartet mich also jedenfalls. Führen Sie mich zu ihm!“

„Das ist für jetzt nicht möglich,“ war die leise, höfliche Antwort. „Der gnädige Herr schläft noch.“

„Jetzt um die Mittagszeit?“ Paul warf einen Blick auf die Kaminuhr, die gerade die zwölfte Stunde zeigte. „Er ist doch nicht etwa krank?“

„Das nicht! Der Herr schläft stets bis in die Nachmittagsstunden hinein, da er gewöhnlich die Nächte hindurch wacht.“

„Das wußte ich in der That nicht,“ sagte Paul, etwas erstaunt über diese Eröffnung. „So werde ich ihn also erst bei Tische sehen.“

„Ich bedaure sehr – der Herr pflegt stets allein zu speisen.“

„Auch jetzt, wo er einen Gast eingeladen hat?“

Der Hausmeister zuckte die Achseln.

„Ich habe Befehl, dem Herrn Baron allein zu serviren.“

„So? Nun, dann bitte ich wenigstens, meine Ankunft dem Freiherrn zu melden – wenn er erwacht.“

Es lag ein unverkennbarer Spott in den letzten Worten, aber in dem Gesicht des Haushofmeisters veränderte sich keine Miene.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_022.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2023)