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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Johann Heinrich Voß in Eutin.

Zur hundertjährigen Feier seines dortigen Rectoratsantritts.

„Das Oertchen ist freundlich, ohne Wall und Mauer. Jeder Garten grenzt mit See oder Feld, und rings herum ist Gottes schöne Welt einem nahe.“ So schildert Nicolovius das Städtchen Eutin, das in anspruchsloser Einfachheit, ein Bild des Stilllebens und der friedlichsten Ruhe gewährend, so ganz verborgen und abseits von dem lauten Geräusch und Treiben der Welt im Osten von Holstein, mitten in seinem prächtigen Schmuck vollwuchsigen Buchenwaldes, grüner Auen, goldener Kornfelder und zwischen zahlreichen wie Augensterne aus Flur und Baum herausblickenden tiefdunklen Seespiegeln liegt.

Vor hundert Jahren um unsere Zeit war es, als in das Städtchen ein Mann aus Otterndorf im Lande Hadeln seinen Einzug hielt, der sich kurz zuvor durch ein unsterbliches Denkmal deutschen Geistes und deutscher Fähigkeit einen hochgefeierten Namen erworben hatte. Das war Johann Heinrich Voß, der Dichter und große Verdeutscher der classischen Dichtkunst Griechenlands und Roms, der bescheidene Rector von Otterndorf, der seinen häuslichen Herd hierher verlegte, um das Rectorat der Eutiner Schule an Stelle des als Professor nach Kiel berufenen Jakob Christoph Rudolf Eckermann[WS 1] zu übernehmen.

Voß’ Wohnhaus in Eutin.
Nach der Natur aufgenommen.

Johann Heinrich Voß stand damals in der Blüthe seines Mannesalters und schaute auf ein bewegtes, nicht freudenreiches Leben zurück. Nach dunklen Jugendjahren voll Kälte und Druck hatte er den Frühling seines Lebens an der Georgia Augusta in Göttingen, dieser damaligen Fürstin unter den deutschen Hochschulen, verlebt und hier während eines dreijährigen Studiums das Gepräge für Leben, Dichtung und Wissenschaft erhalten, welches ihm wie ein unzerstörbarer Charakter sein Leben lang eigen blieb. Herausgetreten aus dem Kreise seiner Studiengenossen und dem Bunde seiner engeren Freunde,[1] die das gemeinsame Band des lauten Bekenntnisses zu Klopstock umschloß, hatte er einen dreijährigen Aufenthalt in Wandsbeck genommen und hier in ländlicher Stille der heiteren Muse, ernsten Forschungen auf den Gebieten der Alterthumswissenschaften und den Sorgen um seinen „Musenalmanach“ gelebt.

Die Wandsbecker Studirstube wurde zur Geburtsstätte seines epochemachenden Werkes, der Odyssee-Uebersetzung, und Wandsbeck die Wiege seiner zweiten Idyllenpoesie; denn in der Vermählung mit Ernestine Boie, der Schwester seines väterlichen Freundes, fand er einen festen, seinem ferneren Leben und Dichten neues Licht und Wärme gewährenden Mittelpunkt. Er hatte das Mädchen allein auf die vierhundert Thaler Erträgniß seines Musenalmanachs hin heimgeführt. Glückselige Zeiten! Die Wohnung des jungen Paares war klein; nur eine Kammer und „ein bretternes Lusthaus im Garten am Bach“ thaten sich den Anfängen ihrer Wirthschaft auf, aber dieses Heim faßte die ganze Liebe und den ganzen Homer, einen doppelten Himmel in sich. Und als erst dem häuslichen Glück die Wiege des Erstgeborenen erstand, da war die Freude groß im Voß’schen Hause, und noch nach zwanzig Jahren preist der Dichter jene Tage, „da er zugleich wiegte und an der Odyssee arbeitete, als unbeschreiblich sorglose und glückliche“.

Mit der Uebersiedelung nach Otterndorf in den hadelnschen Marschen kam einige Störung in sein stilles emsiges Schaffen; die schönste Zeit homerischer Glückseligkeit war damit vorbei. In Otterndorf waltete er mit hingebender Berufstreue des Amtes eines Magisters an der Lateinschule und sah sich in seiner Muße für homerische und dichterische Studien durch vermehrte Arbeitslast sehr beschränkt. Desto mehr aber begründete und rundete sich hier, wo dem Haus das Amt zur Seite getreten war, sein Leben am häuslichen Herde ab. Das Glück des Zusammenlebens mit Weib und Kind erhielt hier die Bedeutung, welche ihn über manche innere Mängel seiner Weltabgeschiedenheit hinüberrettete und welche er in seinen Poesien als Dichter des deutschen Hauslebens gefeiert hat.

Von „Natur“ war in dem Lande der Nebel und Moore kaum die Rede, wenigstens so lange man sich nicht in die eigenthümlichen Reize einer solchen Gegend eingelauscht und eingelebt hatte. Dazu fand Voß aber keine Zeit, und deshalb tragen auch seine hier entstandenen Idyllen („Der siebenzigste Geburtstag“, „Die Kirschenpflückerin“) nicht die Localfarbe der Landschaft, sondern erzählen völlig selbsterlebte Zustände, die zwar auch auf dem freien und naturfrischen Boden des Landlebens sich bewegen, aber doch mehr der Welt des Geistes angehören. Voß sehnte sich nach einer Veränderung; denn er wünschte nicht länger, wie er sagte, „in diesem Marschwinkel sein Froschleben fortzusetzen“. „Den ganzen Tag im Karren und kein Salz auf dem Brode,“ klagte er. Die Liebe Ernestine’s und die Götter Homer’s vermochten ihn einzig mit seiner sauren Amtsarbeit auszusöhnen.

Nachdem im Herbste 1781 die mit Angst und Freude gezeitigte „Odyssee“, ein Werk wahrhaft herculischer Mühen, im Drucke erschienen war, bewarb er sich um das erledigte Rectorat am Gymnasium in Eutin, dem idyllischen Orte, vor dem er sehnend stehen geblieben war, als er einmal vor Ernestinen eine Landkarte ausgebreitet und nach Städten gesucht hatte, wo man Hütten bauen möchte. Durch Vermittelung seines berühmten Freundes, des Dichters Grafen Fr. Leopold Stolberg, erhielt er das Eutiner Amt und zog jetzt in das Städtchen und in die herrliche Landschaft Ostholsteins, deren Boden ihm zu einem zweiten heimathlichen werden sollte, für dessen Vorzüge er noch eine tiefwurzelnde Liebe bis in’s späteste Alter bewahrte, da das grelle Abendroth seines Lebens im deutschen Süden verblich.

Am 21. Juli 1782 hatte er das Rectorat übernommen, und als Wohnung wurde ihm das von seinem Vorgänger innegehabte Haus in der Wasserstraße angewiesen. Der Raum dieser neuen Heimstätte war aber sehr beschränkt und dazu die Gasse so einsam, „nur von schwerwandelndem Hornvieh,“ wie er, homerischer Erinnerungen voll, seinem Freunde Brückner schrieb, „belebt“, wenn dieses beim Frühroth auf die Trift und Abends heimgetrieben wurde. Selten daß einmal der Peitschenknall eines Fuhrmannes, noch seltener der Zauberschall eines Posthornes ihre Stille unterbrach. Nachdem er sich für einige Zeit in einem Stockwerke des Rathhauses mit seiner Häuslichkeit niedergelassen hatte, wurde für ihn am 1. Mai 1784 das Haus des zur Landvogtei nach Neuenburg bei Oldenburg berufenen Stolberg angekauft und eingerichtet.

Dieses Haus, das heute noch die Wohnung des Rectors vom Eutiner Gymnasium ist, wurde der Schauplatz eines fast achtzehnjährigen bedeutungsvollen Wirkens unseres Dichters. In Fachwerk erbaut, kehrt es im Schatten einer alten Linde seinen hohen Giebel der Straße zu; Emanuel Geibel schildert es in seinem Gedichte „Eutin“ mit den schlichten, aber schönen Worten:

„— Nah dem Thor, im Lindenschatten, winkt uns dort
Am Bug der Gasse still zu stehn ein ander Haus,
Bescheidnen Aussehns, aber gern von mir gegrüßt:
Das Haus, in dessen seebespültem Garten einst
Am Sommerabend, voll idyllischer Heiterkeit
Aus irdener Pfeife Wölkchen dampfend, Heinrich Voß
Im Schlafrock zwischen Fliederbüschen wandelte —“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Christian Rudolf Eckermann
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 480. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_480.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2023)