Seite:Die Gartenlaube (1881) 311.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Metaphysik und ihrer Theile, der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie, abgeleitet wird. Dieses ganze Zerstörungswerk schließt mit einer vernichtenden Kritik der bisherigen Beweise für das Dasein Gottes, deren innere Hohlheit mit unerbittlicher Schärfe bloßgelegt wird. Wir begnügen uns mit dieser bloßen Inhaltsandeutung und werfen einen Blick auf den befruchtenden Einfluß seiner Geistesthat, auf die verschiedenen Gebiete des menschlichen Geistes und Herzens, auf die Philosophie, die Religion und die Moral nicht minder, als auf die positiven Wissenschaften, die Literatur und die Kunst.

In den mit glänzendem Scharfsinn geführten Darlegungen der „Kritik der reinen Vernunft“ glaubt Kant dargethan zu haben, daß alle bisherige dogmatisirende Metaphysik, obgleich in den Anlagen des Menschen begründet und durch das Vermögen der Vernunft gewissermaßen verleitet, nur Negatives geleistet und keine wahrhaft philosophische Erkenntniß zu Stande gebracht habe. Aber so wie er einerseits offen eingesteht, erst durch den kühnen Skepticismus David Hume’s angeregt und durch die Angriffe des letztern auf die objcetive Allgemeingültigkeit des Causalgesetzes in der Welt aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt worden zu sein, so hat er auch andererseits das volle Bewußtsein der Bedeutung dieser seiner kritisch-zerstörenden, aber auch wieder aufbauenden That, wenn er seine philosophische Reform mit der astronomischen Umwälzung des Copernicus vergleicht; er thut dies, indem er ungefähr sagt: unter der Herrschaft des Ptolemäischen Weltsystems, welches die Erde in den Mittelpunkt der Welt stellte und diese um jene sich bewegen ließ, habe man die Himmelserscheinungen nur sehr schwer erklären können und erst durch die Anschauung des Copernicus sei man zur Erkenntniß wirklicher Weltgesetze gelangt; so werde auch für die philosophische Erkenntniß eine neue Aera anbrechen, nachdem nunmehr die alte stolze Metaphysik, welche das erkennende Subject von der äußern Erscheinungswelt abhängig machte, gestürzt sei und der transcendentale Idealismus, der das Schwergewicht in uns selbst verlegt und die äußere Wirklichkeit zu bloßen „Erscheinungen“ verflüchtigt, zur Herrschaft gelangt sei. Diese Verflüchtigung der Welt, diese Zerstörung alles Seins hat Kant rücksichtsloser, schärfer, radicaler und vor Allem überzeugender durchgeführt, als vor ihm einst der scharfsinnige englische Denker John Locke und der philosophische irische Bischof George Berkeley. Bei Kant haben wir das unheimlich grausige Gefühl, als gehe die Welt um uns her in nichts auf.

„Weh! Weh!
Du hast sie zerstört,
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust -
Sie stürzt, sie zerfällt;
Ein Halbgott hat sie zerschlagen.
Wir tragen
Die Trümmer in’s Nichts hinüber
Und klagen
Ueber die verlorene Schöne.
Mächtiger
Der Erdensöhne,
Prächtiger
Baue sie wieder,
In deinem Busen bau’ sie auf!“

Ist es Kant gelungen, an Stelle der zerstörten eine neue Welt aufzubauen? Hat er das tiefinnerliche und unauslöschliche Bedürfniß des menschlichen Gemüths, durch Vermählung mit dem Unendlichen seine Sehnsucht zu stillen, wirklich befriedigt? Kant macht dem Mysticismus in der Philosophie nicht die geringste Concession, und deshalb waren auch die Angriffe jener Gefühlsphilosophen, wie Hamann, Jacobi und Herder, gegen die Ergebnisse der „Kritik“ nur vergebliche Lufthiebe. Konnte er, was noch von den rauchenden Trümmern, aus der ehemaligen Speculation und dem früheren Deismus vorhanden war, als Materialien zum Neubau benutzen? Was unversehrt geblieben war, wie die formale, seit Aristoteles wenig fortgeschrittene Logik und die im achtzehnten Jahrhundert stark bereicherte empirische Psychologie, wurde sorgsam mit hinüber genommen. Aber die eigentlichen Hauptstücke aus jenem gewaltigen Dome der dogmatischen Philosophie, in welchem, durch die farbigen Fenster gebrochen das theologische Dämmerlicht ein Jahrtausend hindurch geherrscht hatte, lagen zerstört umher. Ein lichterer Bau erhob sich, zwar etwas kahl, nüchtern und prunklos, aber doch ein ernster und erhabener Tempel, der sein Licht nicht mehr von „Oben“ erhält, sondern in sich und durch sich selbstleuchtend ist. „In deinem Busen bau’ sie auf!“ In uns selbst, und zwar nicht in den erkennenden, sondern den wollenden und handelnden Menschen verlegte nunmehr Kant das Centrum der neuen Weltanschauung; so setzte er an Stelle der alten Metaphysik eine Ethik, eine Sittenlehre im weitesten und vornehmsten Sinne des Wortes, mit deren Begründung und Ausführung die „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) und die „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ (1798) sich beschäftigen.

War, wie die „ Kritik der reinen Vernunft“ dargethan, das Ewige und Unendliche außer uns, die Welt der „Dinge an sich“ für unser Erkennen unerreichbar, nun so realisiren wir es in uns selbst und werden so nicht nur das Gefäß des Göttlichen, sondern das Göttliche selbst, die Schöpfer des ewigen Gehalts in menschlicher Form. Dieses geschieht durch die „Vernunft“, die weder eine „Kraft“ noch ein „specifisches Vermögen“ in uns ist, sondern das innerste Wesen des Geistes, das ihn befähigt, sich selbst seine „Autonomie“ zu verleihen, das heißt sein eigener Gesetzgeber zu sein. Diese autonome Selbstherrlichkeit findet nun in der Sphäre des Sittlichen ihren eigentlichen Wirkungskreis. Jener berühmte kategorische Imperativ. „Handle so, daß die Maxime Deines Willens jeder Zeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann!“ ist nur der concentriteste Ausdruck, gewissermaßen der Grundverfassungsartikel für die sittliche Souveränität des Menschen, und dieses Grundgesetz kündigt sich nicht als ein Erfahrungssatz, sondern als ein ursprüngliches Factum unseres Bewußtseins an. Dieser Autonomie des Willens steht die Heteronomie der Willkür gegenüber, wie die Principien der meisten früheren Moralphilosophen von Sokrates bis Leibniz beweisen, die Kant einer scharfen Kritik unterzieht. Insbesondere bekämpft er den sogenannten Endämonismus des achtzehnten Jahrhunderts, das heißt diejenige ethische Anschauung, die die Glückseligkeit des Menschen, sei es als das letzte Ziel alles sittlichen Wollens und Handelns, oder als in diesem Ziele selbst enthalten ansieht. So wird nun einem Handeln nach äußerer Gesetzmäßigkeit (Legalität) das Handeln um des sittlichen Gesetzes willen (Moralität) entgegengestellt. Aus der sittlichen Selbstbestimmung fließt die sittliche Würde des Menschen, zugleich aber auch das Wesen der Pflicht. Denn indem wir als Vernunftwesen oder „Dinge an sich“ uns selbst als beschränkten Sinnenwesen oder „Erscheinungen“ ein Gesetz geben, stellen wir uns Aufgaben, die uns nicht in fremde Gebiete drängen, sondern uns nur unserer eignen ewigen Natur wiedergeben.

Indem so das Wesen des Ewigen und Göttlichen, dessen theoretisches Erkennen sich in der „Kritik der reinen Vernunft“ als eine vieltausendjährige Irrfahrt des denkenden Geistes erwiesen, nunmehr in das sittliche Wollen des Menschen verlegt wird, erhält das Ethische die Oberherrschaft über das Religiöse, dessen Gewalt über das menschliche Gemüth hierdurch gestürzt wird.

„Aber flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken,
Und die Furchterscheinung ist entfloh’n,
Und der ew’ge Abgrund wird sich füllen;
Nehmt die Gottheit auf in Euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron;
Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sclavensinn, der es verschmäht;
Mit des Menschen Widerstand verschwindet
Auch des Gottes Majestät.“

So schlägt sich Kant von hier aus eine Brücke, um zu einer neuen „kritisch gereinigten“ Religionsphilosophie zu gelangen. Die Untersuchungen der „Kritik der praktischen Vernunft“ haben das Vorhandensein gewisser Postulate in uns ergeben, welche nicht Dogmen sind, die unser philosophisches Wissen erweitern, sondern notwendige Voraussetzungen die den Ideen unserer Vernunft vermittelst ihrer Beziehung auf unser Leben objective Realität verleihen. Solche Postulate sind: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Es gelingt ihm so dieses alte Inventar des ehemaligen Deismus an’s andere Ufer hinüberzuretten; hier läßt er es in seinem Begriffslaboratorium einen complicirten dialektischen Läuterrungsproceß durchmachen und gewinnt auf diesem Wege die wesentlichsten Grundlagen eines „theistischen Vernunftglaubens“.

Die speciellere Entwickelung des letzteren auch in Bezug auf sein Verhälniß zum christlichen Kirchenglauben geschieht nun in jenem berühmten Werke „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, welches Kant mit dem pietistischen Kirchenregiment

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_311.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)