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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

gewiß nicht vergebens, bis wieder einmal von einer politischen Wendung ein Druck ausgeht, vor dem alle czechischen Gewaltsamkeiten weichen. Man ist nirgends ein wehrloser und ungeschirmter Deutscher, so lange noch ein Reich besteht, welches durch den deutschen Geist groß und mächtig geworden ist.

Es giebt eine wunderhübsche Geschichte, in welcher erzählt wird, wie die Nationalitäten Oesterreichs zum lieben Gott pilgerten, um ihm ihre Wünsche vorzutragen. Die Deutschen, die Ungarn, die Italiener waren abgefertigt; da kamen nächst den Czechen die Slovaken an die Reihe.

„Und was wollt Ihr?“ fragte Gott die Slovaken.

„Allmächtiger,“ erwiderten sie, „wir möchten auch einen Goethe haben.“

Da lächelte der Vater der Welt.

„Der ist vergeben,“ lautete seine mitleidige Antwort.

Jawohl, der ist vergeben. Gewalt, Druck und Unbill können die Czechen mitsammt den Slovaken gegen die Deutschen üben, wo diese sich in der Minderheit befinden. Aber die Stelle in der Cultur und Geschichte, die Verdienste um Bildung und Gesittung, welche die Deutschen sich erworben, sind ihnen nicht mehr zu entreißen. Der Goethe ist vergeben. Als der Knabe Themistocles, weil er begeistert von dem Ruhme der Athener sprach, von dem Spartaner Ephialles mit Stockschlägen bedroht wurde, stand er stille und rief: „Schlag’ zu, aber höre!“ Und Themistocles behielt Recht.

So sollen denn auch diese Zeilen nicht etwa ein Hülfs- und Nothschrei sein, um für die gemißhandelten Deutschen in Böhmen Succurs herbeizurufen. Unsere böhmischen Brüder werden Recht behalten wie Themistocles. Nur sozusagen eine Revision der Acten soll hier vorgenommen und der czechische Anspruch auf die Alleinherrschaft in Böhmen gegen den deutschen Anspruch auf Unabhängigkeit und ungestörte Entwickelung abgewogen werden. Ob ohne Zorn und Voreingenommenheit? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wer möchte sich ganz in der Hand behalten, wenn er als Deutscher von gefährdetem und gepeinigtem Deutschthum spricht? Aber jedenfalls mit jener Sachlichkeit, welche ein deutsches Erbe ist, wie trotz Herrn Ladislaus Rieger der Stephans-Thurm in Wien ein deutsches Werk und deutsches Erbe ist. Und so sei denn auch äußerlich das Für und Wider geschieden und sichtbar gemacht wie Behauptung und Einspruch der Parteien vor Gericht.

Worauf ist der deutsche Anspruch begründet?

Als die deutschen Markomannen von der Sturmfluth der Völkerwanderung aus Böhmen hinweggespült waren, ergossen sich von den Karpathen her die slavischen Czechen über das Land. Doch sie blieben nicht lange die Herren desselben. Karl der Große unterwarf sie, und nach der Theilung des karolingischen Reiches blieben Böhmen und Mähren unter Ludwig dem Deutschen bei Deutschland. Unter den schwachen deutschen Königen der nächsten Zukunft lockerte sich dann wohl das Band der Zusammengehörigkeit, aber nur für kurze Zeit. Heinrich der Vogler stellte das Lehensverhältniß wieder her; Deutsche brachten den Czechen das Christenthum, und die Dynastie der Przemysliden stand völlig unter dem deutschen Einflusse. Der heilige Wenzel selbst, der im Lager der Sachsen am Moldau-Ufer dem deutschen Reiche Treue schwor, zog deutsche Geistliche in das Land; zu Ehren des Patrons der Sachsen, des heiligen Veit, wurde neben der Prager Herzogsburg der Veits-Dom gebaut, den Bischof Tuto von Regensburg einweihte, und der erste Bischof von Prag war ein Deutscher, der Benedictinermönch Thietmar aus Magdeburg. Wenzel wurde von den heidnischen Czechen ermordet; Otto der Große züchtigte die Mörder, und von nun an blieb, einzelne flüchtige Episoden abgerechnet, der Lehensverband zwischen Deutschland und Böhmen unangefochten; Wratislav der Zweite empfing von Kaiser Heinrich dem Vierten für seine Treue die böhmische Königskone.

So war in diesem Abschnitte der Geschichte die politische Entwickelung Böhmens geartet; die culturelle war noch ausschließlicher ein Werk der Deutschen. Die böhmischen Herzöge wählten ihre Gattinnen aus deutschen Fürstenhäusern, dem baierischen, dem der Wettiner und der Babenberger, und man „sagte und sang“ deutsch am Prager Hofe, wie ja bei Wenzel, dem Gatten der Staufin Kunigunde, der deutsche Minnesänger Reinmar von Zweier lebte. Das Prager Bisthum war dem Mainzer untergeordnet; in den Städten war das Magdeburger Stadtrecht maßgebliches Gesetz.

Und während der nächsten Epoche nahm der deutsche Geist noch siegreicher von Böhmen Besitz. Die deutschen Kaiser aus dem Hause Luxemburg schlugen in Prag ihre Residenz auf; Karl der Vierte gründete die Prager Universität und ließ von dem deutschen Baumeister Peter von Gmünd die Domkirche auf dem Hradschin, die mächtige Moldaubrücke, die berühmte Barbara-Kirche in Kuttenberg bauen. Nur der sechste Theil der Scholaren, welche an der Prager Hochschule während der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens den Wissenschaften oblagen, war czechisch, während den Rest Deutsche aus Baiern, Schwaben, Franken und Sachsen bildeten.

Dann kam die Hussitenzeit und mit ihr die erste Verfolgung der Deutschen in Böhmen. Sechszehn Jahre lang hausten die Ziska und Procop mit Feuer und Schwert in dem gottgesegneten Lande, und der religiöse Emancipationsdrang war in einen entsetzlichen politischen Terrorismus umgeschlagen. Das Deutschthum, ehedem blühend, wohlbegütert und geistig hochentwickelt, ward schier gänzlich ausgerottet, bis mit den Habsburgern wiederum ein anderes Regiment einzog. Durch mehr als hundert Jahre hatte es von nun ab den Anschein, als sollten mit der Reformation auch deutsche Betriebsamkeit, deutsche Bildung und Gesittung in Böhmen wieder aufleben; die Habsburger wehrten den Böhmen nicht, mit Luther und der Wittenberger Hochschule in unmittelbare Verbindung zu treten. Aber der Hussitismus in seiner Entartung flackerte noch fort; er hatte sich in einen glühenden Deutschenhaß umgewandelt, und als im Jahre 1611 Graf Dohna der Prager Ständeversammlung eine Botschaft des Kaisers verkünden wollte, ward ihm zugerufen: „Deutsch ist in Deutschland, in Böhmen aber Czechisch zu reden.“ Im Jahre 1615 wurde bereits von den Prager Ständen jenes Sprachenzwangssystem beschlossen, welches bestimmte: 1. Künftig und für ewige Zeiten dürfe kein Ausländer, welcher der czechischen Sprache unkundig ist, als Bürger einer Stadt aufgenommen werden. 2. Ein Ausländer, der nach Erlernung der czechischen Sprache das Bürgerrecht erlangt hat, dürfe kein öffentliches Amt bekleiden; erst seine Enkel seien als eingeborene Böhmen zu betrachten. 3. Wo ein deutscher Pfarrer oder Schullehrer vorhanden, solle nach seinem Tode ein czechischer Pfarrer oder Schullehrer angestellt werden. 4. Der Gebrauch der deutschen Sprache sei den Czechen bei Zusammenkünften untersagt; wer hiergegen wiederholt fehle, sei des Landes zu verweisen.

Fünf Jahre nach diesem Sprachengesetze kam die Vergeltung: Der hussitische Adel des Landes, im Aufruhr gegen das Haus Habsburg, flehte in Deutschland um Hülfe, holte sich den pfälzischen Kurfürsten Friedrich, um ihn zum Könige von Böhmen, zum „Winterkönige“, zu erheben. Aber der Adel mitsammt dem neuen Könige erlag in der Schlacht am Weißen Berge; die Czechen flohen nach allen Himmelsrichtungen und fanden in Deutschland eine Zuflucht. Was deutsch war in Böhmen, stand fortan unter der Hut des Habsburgischen Absolutismus und der Jesuiten.

Es befand sich dabei in nationalem Betracht nicht einmal schlecht; denn das Slaventhum trat mehr und mehr zurück. Als Marias Theresia die Zügel der Herrschaft ergriff, fand man Czechen in Böhmen nur noch unter den Bauern und hier und da auch unter den Handwerkern. Mit der Volksschule zog im Jahre 1774 die deutsche Sprache ihre letzten siegreichen Ringe, und es stand keine Schranke mehr zwischen Böhmen und Deutschland aufrecht; die Erziehung war von den untersten bis zu den höchsten Stufen deutsch; in Prag beherrschten deutsche Dichter das geistige, deutsche Künstler das artistische Leben. Joseph der Zweite, der Begründer des ersten deutschen Nationaltheaters, begünstigte selbstverständlich nach Kräften diese Entwickelung. Gluck hatte schon vorher in Prag seine Studien gemacht, und Mozart war der Liebling der Prager. Deutsche Zeitungen hatte es bereits seit dem dreißigjährigen Kriege in Böhmen gegeben, während erst im Jahre 1787 das erste czechische Zeitungsblatt entstand.

Günstiger als seit dieser Zeit hat Böhmen sich materiell und geistig niemals entwickelt: Handel, Gewerbe, Landwirthschaft nahmen in dem Lande, dem die Natur eine reiche Ausstattung mit allen möglichen Hülfsquellen verliehen hat, einen üppigen Aufschwung, und der czechische Bauer wollte lange nicht daran glauben, daß der gute Kaiser Joseph gestorben; der Adel und das betriebsame Bürgerthum waren deutsch in Sitte und Sprache, während das Czechische Bauernsprache geblieben war. Eine literarische Wechselseitigkeit, ein geistiges In- und Miteinanderleben mit Deutschland blühte auf, so recht zum Beweise, daß Böhmerwald und Fichtelgebirge, Erz- und Riesengebirge nichts seien als Bergzüge inmitten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 835. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_835.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2022)