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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


sehr oft eine gedankenvolle Stirn gestützt. Sie schwieg einen Augenblick; dann berührte sie leise seine Hand. „O, ich fühle Euer Herz schlagen durch Eure Hand – es schlägt bis an das meinige hinan.“

Er blickte sie leidenschaftlich an. Sie zuckte zusammen. Was hatte sie gesagt, was hatte sie gethan? Aber wieder zog es sie machtvoll zu ihm; ihr Kopf – sie konnte nicht anders – sank wieder an seine Schulter. Nun lag ihre Hand in der seinigen; er drückte sie, erst sanfter, dann kühner; sie schloß die Augen und träumte einen Moment in sich hinein.

„Kommt hinweg!“ sagte sie schnell und stand hastig auf. „Eure Nähe und diese Einsamkeit machen, daß Karin sich plötzlich fürchtet – vor dem Todten da unten,“ fügte sie scheu und leiser hinzu. „Er reicht mir auch eine Hand herauf, und die ist noch viel bleicher als die Eurige.“

„Karin!“ kam es sanft von seinen Lippen, und er zog sie wieder auf den Stein zu sich nieder. „Sei ruhig! Ist die Natur es nicht auch, die gestern noch stürmte? Siehst Du da unten Deine Tauben um die Grotte fliegen? Wie sie sich wiegen in der reinen Morgenluft! Und das Meer sieh an! Es ruht aus nach dem Sturm, aber nicht weil es müde ist, ruht es; es ruht nur, um in süßer Lust den Himmel zu spiegeln, Frühlicht, Mittagssonnenschein, Abendroth. Ach, und der klare Himmel! Sein Blau fluthet zusammen mit dem Blau des Wassers – Mädchen, mein Mädchen, wie Dein Empfinden und das meine.“

Sie lauschte, wie ein Kind auf Märchen lauscht, und wie sie so lauschte, war sie schön, wie die Schönheit, die von sich selbst nichts weiß.

„Wie traut es klingt, wenn Ihr redet!“ sagte sie, und ein Abglanz innerer Freude glitt über ihr Gesicht. „Aber Eure Rede ist wie der Duft des Haidekrautes – berauschend.“

Eine Erika, eine von denen, die sie für den Todten gepflückt, war auf dem Gestein zurückgeblieben; sie hob sie auf.

„Glaubt Ihr, daß die Blumen leben?“ fragte sie, „daß sie den Sonnenstrahl fühlen, den Kuß der Luft und den Athem des Windes? Ihr Leben ist gewiß nur ein Schlaf, ein Schlaf ohne Träume, ohne Erwachen. Ohne Erwachen? Aber was war denn Karin, ehe Ihr da wart? Ihr kamt; Ihr blicktet mich an – ich glaube doch, daß die Blumen leben, daß sie erwachen können – glaubt Ihr nicht auch?“

„Meine Blume!“ rief er stürmisch. Er legte den Arm wieder um ihre Schulter, strich ihr eine Locke aus dem Gesicht und preßte die Lippen auf ihre weiße Stirn.

Sie erschrak und ließ die Erika fallen.

„Es ist doch besser, wir gehen,“ sagte sie und erhob sich.

„Komm!“ flüsterte Hallerstein, indem sie gingen.

Vom Grabe Olaf's herüber wehte ein leiser Lufthauch; er spielte wie liebkosend um Karin's Stirn und Wangen.

„Ob die Todten wohl unsere Gedanken kennen?“ fragte sie zaghaft, und nach einer Weile fuhr sie fort: „Ich muß immer an ihn denken. Als der Sturm uns in die Klippen geworfen, als das Boot krachte und das Wasser zu uns hereindrang, da sagte er:

'Karin, das Schicksal hat es gewollt: dies ist die Stunde, wo wir den ewigen Bund schließen. Du hast mich nie geliebt – ich weiß es, aber ich habe den Trost, mit Dir zu sterben und daß Niemand nach mir Dich besitzen wird. Du bist mein.'

Die nächste Welle trennte uns. Seit jener Stunde weiß ich, wie lieb er mich gehabt; ich habe seinen Tod verschuldet, und er liebte mich im Sterben. Ach, fortan darf Karin's Herz keinem anderen Manne gehören, als nur dem Todten.“

Sie sagte es halb fragend und zuckte heimlich mit den Wimpern, als fürchte sie die Antwort, die sie nun hören werde.

Hallerstein erwiderte kein Wort. Das Menschenherz hat Augenblicke, ernste Augenblicke der Heiligung, wo uns jeder Laut als eine Entweihung, jedes Wort als ein Frevel erscheint. Noch einen Blick sandten sie zurück nach dem Stein, unter dem Olaf schlief – dann stiegen sie langsam von Fels zu Fels hinab, Hand in Hand, schweigend, gedankenvoll. Unter ihnen prangte die Landschaft in friedevoller Schönheit, und auf dem Wasser lag eine helle, heitere Beleuchtung. Sie stiegen unablässig felsab. Nur mitunter, wenn am Horizonte ein Segel im Sonnenglanze aufblitzte, hemmten sie die Schritte unwillkürlich und blickten in die See hinaus, bis es im nächsten Augenblick in der Ferne verschwand. Dann fühlte Hallerstein Karin's Hand in der seinigen aufzucken; ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie reden – aber sie sagte nicht, was sie dachte, und senkte stumm den Blick. Tiefe Stille ringsum; nur dann und wann tönte es zu ihnen herauf, wie ferne Hammerschläge. Als sie um eine Felsecke bogen, lag der Strand vor ihnen. Axel und Daniel zimmerten da unten an dem alten, leck gewordenen Boote. Auf dem halben Wege zur Tiefe kam den Hinabsteigenden Rustan entgegengesprungen; er bellte vor Freude so laut, daß es in den Schluchten und Klüften wiederhallte, und umtanzte sie in großen Sätzen, dann aber, als fühlte er, was sie bewegte, wurde er still wie sie, und den Kopf geneigt, ging er langsam hinter ihnen drein.

Als sie vor der Hütte anlangten, empfing sie Vater Claus mit dem Zuruf:

„Baron, die Wellen haben Eure Truhe angetrieben; sie liegt am Strande.“

(Schluß folgt.)




Skizzen aus deutschen Parlamentssälen.
Nr. 2. Die Führer der Secessionisten.


Vom 31. August 1880 datirt der Aufruf, mit welchem eine seitdem mit dem politischen Parteinamen der „Secessionisten“ bezeichnete Anzahl von nationalliberalen Mitgliedern unserer Volksvertretung im Reichstage und preußischen Abgeordnetenhause ihre Trennung von dieser Partei ausspricht und zum ersten Male öffentlich zu rechtfertigen sucht. An seiner Spitze wird die Ueberzeugung ausgesprochen: „daß die nationalliberale Partei gegenüber den wesentlich veränderten Verhältnissen nicht mehr von der Einheit politischer Denkart getragen werde, auf der allein ihre Berechtigung und ihr Einfluß beruhten“. Der Aufruf betont sodann die Wirksamkeit eines wahrhaft constitutionellen Systems, wie es die deutsche liberale Partei seit ihrer Existenz unverändert erstrebt habe, aus dem allein eine in sicheren Bahnen ruhig fortschreitende Entwickelung unserer Einheit hervorgehen könne, und erklärt festen Widerstand gegen die rückschrittliche Bewegung für die gemeinschaftliche Aufgabe der liberalen Parteien. Zugleich hebt er hervor, daß die wirthschaftliche Freiheit mit der politischen eng verbunden sei, und fährt sodann fort: „Nur unter Wahrung der constitutionellen Rechte, unter Abweisung aller unnöthigen Belastungen des Volkes und solcher indirecten Abgaben und Zölle, welche die Steuerlast vorwiegend zum Nachtheil der ärmeren Volksclassen verschieben, darf die Reform der Reichssteuern erfolgen. Mehr als für jedes andere Land ist für Deutschland die kirchliche und religiöse Freiheit die Grundbedingung des inneren Friedens. Dieselbe muß aber durch eine selbstständige Staatsgesetzgebung verbürgt und geordnet sein. Ihre Durchführung darf nicht von politischen Nebenzwecken abhängig gemacht werden. Die unveräußerlichen Staatsrechte müssen gewahrt und die Schule darf nicht der kirchlichen Autorität untergeordnet werden.“

Der bezeichnete Schritt dieser Männer, welche in der citirten Erklärung die Lossagung von ihren bisherigen Parteigenossen proclamirten und zugleich ein Programm für die Einigung der liberalen Parteien in Deutschland aufstellten, in welchem allerdings mit Vorsicht alle zu Meinungsverschiedenheiten Anlaß gebenden Fragen ausgeschieden sind, unterliegt in diesem Augenblick noch der Prüfung und Beurtheilung aller Parteien und nimmt in der Presse wie in öffentlichen Versammlungen die Aufmerksamkeit und Theilnahme der Nation um so mehr in Anspruch, als an der Spitze der Unterzeichner jenes Ausrufs Männer stehen, die in früheren Zeiten sich als muthige Vorkämpfer des parlamentarischen Rechtsstaats hervorgethan und auf den verschiedenen Gebieten der öffentlichen Thätigkeit sich in ausgezeichneter Weise bewährt haben. Müssen wir auch die Entscheidung über den Werth und die Bedeutung, welche die Nation ihrem Schritte beilegen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 784. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_784.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)