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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Aber nun zu Eurer Tochter!“ unterbrach Hallerstein die Stille, „ich muß sie sehen; ich muß ihr danken. So scheu davonzufliegen, und dann auf Stunden zu verschwinden – ein seltsames Kind, fürwahr!“

„Ihr sagt's,“ entgegnete der Greis, „und die sie kennen, sagen's auch. Potz Anker und Segeltuch! 's ist etwas Eigenes in dem Mädchen. Hättet sie sehen sollen vor nur wenigen Jahren, als sie noch ein flüchtiges Ding war mit großen blauen Unschuldsaugen und runden, vollen Kinderwangen! Leichtfüßig wie der Wind flog sie über die Felsen hin, sprang über Klüfte und kletterte zu den höchsten Abstürzen hinauf, um die spärlichen Blumen, die sich in den Ritzen des Gesteins angesiedelt, zu pflücken und Kränze daraus zu winden; so geschwind und so geschmeidig flog sie dahin, daß man glaubte, die Engelsschwingen an ihren Schultern wachsen zu sehen. Haupt und Brust bekränzt, kam sie dann heim und tanzte und sang, aber schon im nächsten Augenblick ließ sie träumerisch den Kopf hängen, und traurig – Niemand wußte warum – warf sie die Kränze in's Meer. Oft war sie nach solchem Auftritt stundenlang verschwunden, als schäme sie sich, daß sie Alles anders empfand als andere Menschen, und wenn wir sie suchten und endlich fanden, dann kauerte sie in dem Winkel irgend einer Schlucht, in sich versunken, als hielte sie mit Himmel und Erde, mit Sternen und Muscheln Zwiesprach. Ein einzig Kind, Baron! 'Hexe Karin' nannten sie scherzend die Schiffer, die unsere Insel ansegelten; denn im Morgenroth sahen sie sie mit fliegenden goldigen Haaren auf den Riffen tanzen, und Abends beim Mondschein hörten sie ihren Gesang weithin über die See hallen. 'Karin's Stimme' sagten sie, wenn das Schiff im Nebel den richtigen Cours verfehlt hatte, und wendeten das Steuer und segelten auf unser Eiland zu.“

„Kommt!“ bat Hallerstein, „führt mich zu Eurer Tochter!“

„Nun ist aus dem Kinde eine Jungfrau geworden,“ fuhr der Alte eifrig fort. „Ein Teufelsmädel das! Im Grunde ist sie noch heute wie damals. Gilt's eine Gefahr, gleich fängt sie Feuer, und Keiner hält sie zurück. Wenn ein Schiff gestrandet, begleitet sie uns auf unseren Rettungsfahrten, und manche führt sie sogar allein aus, nur von Rustan, dem treuen Thier, begleitet. Der Rustan! Sag' Euch, ist das ein Hund, stark wie ein Bär! Einen Mann trägt er Euch mit den Zähnen durch die Brandung, ein Schwimmer, wie ein Kerl. Könnte Euch Exempel nennen –“

„Laßt uns gehen!“ fiel Hallerstein dem endlos Schwatzenden in die Rede. „Ich muß das seltene Mädchen sehen. So tapfer und so liebreizend –“

„Ja,“ redete der Graukopf darein, „daß sie liebreizend ist, wißt Ihr, und daß sie tapfer ist, hörtet Ihr soeben aber, Baron, wie klug und gescheut sie ist, das sollt Ihr noch erfahren. Der Tausend! Hab' sie lesen gelehrt in Kalendern und Märchenbüchern – ja, was Ihr wohl meint!? – hab' eine kleine Bibliothek. Und Hedda, mein Weib, kennt die Kräuter der Erde und die Sterne des Himmels. Karin ist ihre gelehrige Schülerin. Sie möchte alles wissen und alles mit ihren Gedanken fassen. Das Mädel hat einen aparten Kopf und spricht wie ein Buch, sag' ich Euch. – Aber ich schwatze zu lange. Kommt denn!“ Er ging dem Baron voran. „Ich denke, wir suchen sie an ihrem Lieblingsplatze, in der Grotte.“ Er schmunzelte vergnügt vor sich hin. „Da wird sich ein freundliches Bild vor Euch aufthun Baron.“

Sie stiegen aufwärts über das Gefels.

„Noch Eines!“ sagte Hallerstein plötzlich stillstehend und seeeinwärts zum Wrack hinüberblickend, „nicht wahr, nur das Vordertheil des Schiffes ist gesunken, aber das Hintertheil –“

„Liegt noch über Wasser,“ erwiderte Vater Claus.

„Dort befindet sich die Kajüte, die unser Quartier war,“ fuhr der Baron fort. „Es liegt mir viel, sehr viel daran, eine kleine Truhe zu bergen, welche sich dort unter meinen Sachen finden muß. Was meint Ihr? Haltet Ihr es für möglich, an das Wrack hinan zu gelangen?“

„Hm,“ machte der Alte, „hab' meine Leute hinausgesandt, zu bergen, was sich bergen läßt. Es sind flotte Kerle. Aber“ – er zeigte auf das Fahrzeug am Ufer – „da seh' ich eben das leere Boot. Sind unverrichteter Sache heimgekehrt. Zum zweiten Male die gefährliche Fahrt – ? Enthält die Truhe Stücke von so erheblichem Werth – ?“

„Familienpapiere,“ antwortete der Gefragte, „und zwar wichtige, wie es scheint. Das Testament meines Schwiegervaters – Ihr wißt, er ist längst todt – verpflichtet mich, die geheimnißvolle Lade am dritten Tage nach der Hochzeit zu öffnen, und in einer Clausel des Heirathsvertrages hab' ich gelobt, diesem Gebot nachzukommen. Meine Ruhe hängt daran, daß ich in den Besitz des Vermächtnisses komme. Aber wenn die Fahrt zum Wrack nur mit Gefahr – ich will kein Menschenleben, nein, bei Gott, Vater Claus, das will ich nicht –“

Der Alte pfiff durch die Finger, daß es gellend durch die Schlucht des Ufers tönte.

„Heda, Axel,“ rief er, „Olaf, Daniel! Potz Anker und Segeltuch, wo stecken die Jungens? Geht, Baron!“ sagte er dann, „will nach ihnen ausspähen und sehen was sich thun läßt, glaub' aber kaum, daß ich's durchsetze, sie noch einmal hinauszutreiben in den Sturm.“

„Ich würde die Truhe mit Gold aufwägen,“ sagte Hallerstein, „aber kein Mensch soll um mich –“

„Geht, Baron!“ unterbrach ihn der Greis. „Ich treff' Euch in der Grotte wieder. Ihr könnt nicht irren. Hier noch eine Weile aufwärts, dann auf der Höhe links um den vorspringenden Felskegel, und Ihr seid am Ort. Adjes!“

Er wandte sich und ging. Noch mehrmals klang sein Pfiff und Hedaruf durch die Luft.

Hallerstein stieg rüstig felsan und erreichte bald ein ödes steiniges Plateau. Hier fegte der Sturm voll und breit durch das niedrige Gestrüpp und spielte in dem harfenförmigen Geäste verkrüppelter Föhren und Fichten sausende, phantastische Melodien. Aber noch ein Klang schwebte fremdartig und seltsam in dem Sturmgebraus. Wie süßer, wehmuthvoller Gesang kam es dahergezogen und doch kräftig und gemüthsursprünglich. Und nun – über Fels und Stein tönte es deutlicher und klarer, Klang um Klang:

„Wie mir geschah,
Da ich ihn sah –
Möcht' Well' und Wolken fragen.
Gefühl der Lust
Schwellt mir die Brust,
In Worten nicht zu sagen.

Möcht' segeln gehn,
Die Welt zu sehn
In bunten Abenteuern
Auf hohem Schiff,
Vorbei am Riff,
Wie wollt' ich südwärts steuern!“

Hallerstein stand und lauschte. Wie hatte doch Vater Claus erzählt? „Karin's Stimme,“ riefen die Schiffer sich zu, wenn sie verirrt waren in der Einöde von Meer und Himmel. „Karin's Stimme,“ flüsterte er vor sich hin. War er nicht auch ein verirrter Schiffer auf dem Meere des Lebens? Gedankenvoll schritt er weiter. Es überkam ihn eine seltsame Stimmung. Er empfand etwas, wie eine unbestimmte Verheißung, wie ein reizendes Märchen, das sein Herz und diese nebelverhängte Einsamkeit mit einander spannen. Nun hemmte er den Schritt. Vor ihm, in einem ragenden, verworrenen Aneinander von Steinblöcken und wirrem Sand- und Muschelgeschwemme öffnete sich breit und hoch ein Felsenmund; es war Karin's Grotte, und aus der Tiefe erscholl jetzt inniger und schmelzender ihr Gesang:

„Am fernen Strand
Weiß ich ein Land,
Wo sanft die Lüfte blauen,
Wo von den Höh'n
Erhaben schön
Die Palmenwälder schauen.

Es athmet sacht
Die Sommernacht
In den beglückten Zonen.
O, könnt' ich dort – –“

Hallerstein war auf die Schwelle der Grotte getreten; in demselben Augenblicke schlug tief drinnen ein Hund an, und das

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