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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


zumeist sehr würdige Herren, welchen man nur eine sehr leichte Arbeitsbürde zuweisen will, und lustig genug war es, als diese Idylle durch die Vorlage des vielberufenen „Maulkorbgesetzes“ gestört wurde. Die Geschäftsordnungs-Commission war nicht wohl zu umgehen; man mußte ihr den Entwurf zur Prüfung überweisen. Als vorzugsweise sachverständig wurden die drei Reichstagspräsidenten zu außerordentlichen Mitgliedern ad hoc der Geschäftsordnungs-Commission gemacht, den älteren Mitgliedern der letzteren aber wurde es einigermaßen unheimlich in den veränderten Umständen, welche an Stelle des würdevollen far niente eine verantwortungsreiche und schwierige Arbeit gesetzt hatten, und die Mehrheit schied aus, um rüstigeren Parlamentariern Platz zu machen. Das wäre im Grunde nicht einmal nöthig gewesen; denn die „Maulkorbvorlage“ blieb begraben.

Die Thätigkeit der Rechnungs-Commission ist eine unscheinbare, aber ihre Bedeutung ist nicht gering. Auf ihrer Gewissenhaftigkeit beruht die Sicherheit, daß die Finanzverwaltung auch streng budgetmäßig verfährt. Dank der Mustergültigkeit unserer Finanzverwaltung, dank der sprüchwörtlichen Aufmerksamkeit der Oberrechnungs-Commission zu Potsdam, haben die Rechnungs-Commissionen im deutschen Reichstage und im Preußischen Abgeordnetenhause nur selten Monita vorzubringen.

Der mühseligste Theil und das am meisten gehäufte Maß der Arbeiten gehört der Petitions-Commission. Die Tausende alle, welche, mühselig und beladen, an die Volksvertretung als an die vierte Instanz sich wenden, finden hier sorgsame Prüfung ihrer Beschwerden und Wünsche. Wären die Mitglieder der Petitions-Commission weniger sorgsam, als sie es der großen Mehrheit nach sind, das verfassungsmäßige Recht der Petition an die Volksvertretung würde ein todter Buchstabe sein; denn die Petitions-Commission hat der Natur der Sache nach die weitestgehenden discretionären Befugnisse, welche sie übrigens nur dem Herkommen und nicht einer formulirten Vorschrift verdankt. „Nicht geeignet zur Erörterung im Plenum“ – dies ist das häufigste Verdict, und noch nie ist es vorgekommen, daß ein Abgeordneter von dem Rechte Gebrauch gemacht hätte, Widerspruch zu erheben.

Die wichtigste Commission in jedem Parlamente ist die Budget-Commission. Ihr liegt es ob, die für den Laien unübersehbaren Zifferncolonnen des Etats zu sichten und jede einzelne der zehntausend Positionen auf ihre Nothwendigkeit sowie auf ihr billiges Ausmaß zu prüfen. Die Etatsberathung hat Virchow einmal „die Inventur aller starken und schwachen Stellen der Regierung“ genannt, und diese Bezeichnung ist für die Bedeutung der Budget-Commission sehr zutreffend.

Ist die Zahl der ständigen Commissionen umgrenzt, so giebt es für die Special-Commissionen kein anderes Maß als dasjenige, welches jeweilig dem Parlamente beliebt, unter Berücksichtigung natürlich der Fülle von Vorlagen, welche die Regierung der Volksvertretung unterbreitet. Ein Gesetzentwurf muß sehr einfach und klar sein, wenn das Parlament es übernehmen soll, auf seine Vorprüfung zu verzichten. Es geschieht zuweilen, daß das Plenum in der zweiten Lesung solches Unterfangen bereut und eine Vorlage nachträglich in eine Special-Commission verweist.

Die Commissionsverhandlungen finden unter Ausschluß der Oeffentlichkeit statt, das heißt: es dürfen nur Abgeordnete denselben beiwohnen. Doch ist es wohl noch nie vorgekommen, daß es an sachgemäßen Berichten über jeden einzelnen Vorgang innerhalb der Commissionen gefehlt hätte, es sei denn, daß Personalien zur Sprache kamen. Die Abgeordneten selbst arbeiten hier im Dienste der Oeffentlichkeit, indem sie die bezüglichen Mittheilungen in dankenswertster Weise den Vertretern der Presse zustellen.

Die drei Präsidenten, die acht Schriftführer, die beiden Quästoren und die sieben Abtheilungs-Vorsitzenden bilden den Gesammtvorstand des Parlamentes; die Präsidenten mit den Schriftführern werden das Bureau genannt.

Die Wahl der drei Präsidenten erfolgt unter Leitung eines Altersvorsitzenden und einer Anzahl Jugend-Schriftführer in drei gesonderten Wahlgängen. Weniger umständlich ist die Wahl der Schriftführer. Ein einziger Wahlgang bezeichnet die acht Gehülfen des Präsidiums, und zwar gemäß den Verabredungen des Senioren-Convents, dessen Einfluß hier wieder beginnt, und welcher auch dem Präsidenten die Namen derjenigen Abgeordneten suppeditirt, die er zu Quästoren beruft.

Soweit wir bis zu der Präsidentenwahl von den parlamentarischen Einrichtungen gesprochen, soweit existiren bestimmte Vorschriften oder eine feste Tradition. In Bezug auf den ersten und wichtigsten Act parlamentarischer Selbstregierung aber hat sich ein sicheres Herkommen, welches die Kraft der Selbstverständlichkeit besäße, noch nicht gebildet. Von einer Legislaturperiode zur anderen entbrennt der Streit um die höchsten Ehrenstellen auf’s Neue, und immer giebt es Parteien, welche grollend meinen, ihnen sei Unrecht geschehen. In parlamentarisch naiven Zeiten, als die Parteien noch nicht durch persönliche Verbitterungen geschieden waren, hielt man die Stelle des ersten Präsidenten für einen Ehrenposten, der dem Geschicktesten gebührte. Eine conservative Mehrheit gab einem liberalen Manne ihre Stimmen, weil dieser Mann sich in der Leitung der Geschäfte bewährt hatte. Doch diese Naivetät ist längst dahin, und der Präsidenten-Wahlkampf ist die erste Probe, bei der die Parteien sich messen. Es ist thatsächlich ein Kampf; denn man ist noch nicht zu einem leitenden Principe gekommen, so oft man auch versucht hat, ein solches aufzustellen. Viele Anhänger fand die Idee, den Präsidenten der numerisch stärksten Fraction zu entnehmen, die beiden Vicepräsidenten aber von den nächst zahlreichen Fractionen präsentiren zu lassen. Wäre jemals eine Fraction für sich allein im Besitze der Stimmenmehrheit gewesen, so hätte sie ganz selbstverständlich die vornehmsten Ehrenstellen für sich in Anspruch genommen. Noch sind wir aber in Deutschland nie in solcher Lage gewesen; es mußten stets mehrere Parteien sich zu gemeinsamem Vorgehen einigen. Natürlich war eine solche Einigung immer unter denjenigen Parteien am leichtesten zu erzielen, welche auch in politisch-gesetzgeberischer Beziehung einander zur Majorität ergänzten. In der Blüthezeit des Liberalismus besetzten deshalb Nationalliberale und Fortschrittler allein das Präsidium; den Rückgang des Liberalismus bezeichnete die Zulassung der (frei-conservativen) Reichspartei in das Präsidium; dann beherrschte im Reichs- und Landtage die clerical-conservative Vereinigung die Situation, bis das Centrum in der preußischen Abgeordnetenkammer vor Kurzem die Ehrenstelle eines Vicepräsidenten einbüßte, und nunmehr wenigstens in dem Präsidium diese Körperschaft dieselbe „würdige Zurückhaltung“ beobachten kann, welcher sich seine Führer bei den jüngsten nationalen Festtagen befleißigten.

Die Stellung eines Parlamentspräsidenten gehört zu den schwierigsten, weil sie die exponirteste ist. Abgesehen von dem durch Routine erreichbaren Geschick in der äußeren Leitung der Geschäfte, abgesehen von einer unbeirrbaren Unparteilichkeit, welche füglich nicht mehr ist als eine Pflicht, die jeder Richter tagtäglich zu erfüllen hat, liegt dem Präsidenten noch ob, in seiner Person die Würde der Volksvertretung selbst zu jeder Zeit zu wahren, eifersüchtig über die Rechte derselben zu wachen und trotzdem im Verkehr mit den Regierenden ein versöhnliches Wesen zu zeigen. „Bis an die Mauern des Hauses“ unbeschränkter Gebieter – nicht „bis an die Schranken des Ministertisches“, wie Kriegsminister von Roon einmal im preußischen Abgeordnetenhause bemerkte und wodurch er Herrn von Bockum-Dolffs zwang, die Sitzung zu vertagen – hat der Präsident doch genau die nur für scharfe Augen erkennbare Grenzlinie innezuhalten, welche die Befugnisse des höchsten Ehrenbeamten der Volksvertretung von denen des leitenden Staatsmannes innerhalb des Parlamentes trennt. Dem Einen gebührt ganz unbedingt das Recht, die Ordnung des Hauses als vornehmste Instanz zu wahren, von welcher keine Appellation als an die souveraine Versammlung möglich ist; dem Anderen gebührt ebenso unbedingt das Recht, zu jeder Zeit das Wort zu ergreifen. Hier liegt die Möglichkeit vor, daß das Recht zu Unterbrechungen sich mit dem Rechte kreuzt, zu reden, und in erregten Zeiten gehört in gleich hohem Maße Tact und Festigkeit dazu, die Grenzlinie innezuhalten, welche die selbstbewußte Würde von der Rechthaberei scheidet.

Dies ist das Räderwerk des Parlamentarismus. Unentbehrlich haben wir den äußerlichen Mechanismus bereits in den einleitenden Worten genannt; fügen wir zum Schluß hinzu, daß er für sich allein nicht genügt, um ein gedeihliches Wirken zu veranlassen. Hierzu gehört noch der belebende Geist, der begeisterte Wille und die willige Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen des großen Ganzen. Mögen diese Vorzüge dem deutschen Parlamente niemals fehlen!



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