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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

No. 40.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Schwester Carmen.
Aus dem Leben einer deutschen Herrnhuter-Colonie.
Von M. Corvus.
1.

Dämmerung lag noch auf der Erde, und der Morgen rang mit der Nacht um die Alleinherrschaft. Im Osten färbte sich schon graues Gewölk mit gelblichem Scheine, und ein leiser Luftzug strich frisch über die jungen Halme der Saat, als sei er ein Odem, der die Welt wieder belebe.

Und immer lichter wurde das Grau der Dämmerung; immer goldener färbten sich die Wolken; bald auch zuckten Strahlen glühenden Lichtes am Horizont empor. Da, mit lautem Jubelruf, schwang sich im Felde eine Lerche aus ihrem feuchten Neste auf; sie sang dem auferstehenden Licht entgegen, und als habe sie mit ihrem Lied die Stimmen der Erde geweckt, erschallten jetzt laut Posaunentöne und feierlicher Gesang, die Auferstehung zu feiern, die Auferstehung nicht nur der Sonne, sondern auch der ganzen Natur und der Menschheit – es ist Ostersonntag.

Dort, wo die Häuser des kleinen Ortes stehen, tritt soeben eine Schaar einfach gekleideter Menschen hervor und zieht durch die grünenden Saatenfelder den Hügel hinan. Es ist ein weiter Garten, den sie hier betreten; große Lindenbäume breiten schirmend das jetzt noch kahle Geäst ihrer Zweige darüber hin. Inmitten aber steht ein Kreuz von Stein, das Kreuz Christi, dessen Auferstehung die Stimmen der Posaunen und der Menschen soeben jubelnd begrüßen. Freude liegt auf allen Gesichtern, wie die Menge jetzt um das Kreuz geschaart steht und andächtig zu demselben aufblickt, das volle Licht der nun aufgegangenen Sonne aber sich mit blendendem Scheine über sie ergießt.

Nun schweigt der Gesang; die Musik verstummt, und weithin schallend, ruft aus der Menge eine laut vernehmliche Stimme:

„Der Herr ist erstanden.“

„Er ist wahrhaftig auferstanden,“ antwortet jubelnd, wie aus einem Munde, die ganze Schaar der Versammelten.

Und der, welcher zuerst gesprochen, tritt vor an den Fuß des Kreuzes und redet zu der Menge:

„Meine lieben Brüder und Schwestern! Wie alljährlich am Ostersonntag, sind wir auch heute auf unseren freundlichen Gottesacker gezogen, nicht um die Todten zu betrauern, nein, um uns zu freuen, daß unser Heiland auferstanden ist aus dem Grabe zu himmlischem Leben. Und mit ihm sind auferstanden Alle, die ihm nachfolgten im irdischen Leben. Darum, wie wir niemals mit dem Kleide trauern, trauert auch nicht mit der Seele, wenn Ihr der Brüder und Schwestern gedenkt, die vor uns dahingegangen sind, sondern drückt Euch die Hände und freuet Euch, daß ihnen die Seligkeit geworden ist durch den Erlöser! Um seinetwillen, um des reinen Glaubens willen wanderten die mährischen Brüder damals fort aus der alten Heimath mit Weib und Kind und ließen zurück all ihr Hab und Gut – aber sie nahmen mit, was köstlicher war als dieses: sie nahmen im treuen Gemüthe mit, was ein Huß, was ein Comenius ihnen gelehrt, die einfachen Grundwahrheiten des Christenthums. Und sie suchten eine neue Stätte, wo sie wohnen und ihrem Glauben leben konnten. 'Da, wo der Vogel ein Haus und die Schwalbe ihr Nest gefunden, nämlich Deine Altäre, Herr Zebaoth!' – da bauten sie sich an; der neuen Gemeine aber, die sich mit ihnen bildete, übertrugen sie die alten Satzungen, nach denen sie gelebt, die alte Verehrung für ihren Erlöser, die alte Liebe und Brüderlichkeit. Und aus dem kleinen Samenkorn, das sie gesteckt, hat sich die neue Brüdergemeine ausgebreitet über die Erde.

Laßt uns, die wir ihre Nachkommen sind, dem treu bleiben, was sie verband, laßt uns das heilig halten, um dessen willen sie fortwandern mußten und das sie treu und fest gehalten haben in aller Noth und Fährlichkeit! Haltet fest an der Liebe! Traget und verzeihet einander in der Liebe, opfert Euch auf in der Liebe, leidet in der Liebe und sterbet in ihr – dann seid Ihr wirklich Jünger unseres Heilandes. Amen!“

Der Prediger schwieg, und die Gemeinde sprach andächtig sein Amen nach. Dann drückten sie sich freudig lächelnd die Hände und umarmten einander. Der große Kreis, der das Kreuz umstanden hatte, löste sich auf, und in einzelnen Gruppen durchwandelten sie nun den freundlichen Garten, wo Die ruhen, welche sie zur letzten Rast hierher getragen.

Die Glieder der Brüdergemeinde, wie sie hier in leisem, aber heiterm Gespräche, immer die Geschlechter getrennt, hinwandeln, ähneln sich alle in äußerst schlichter, einfacher Kleidung. Nirgends ein Putz oder Prunk; die Sauberkeit scheint der einzige Putz zu sein, welchen sie suchen, denn Alle sind darin von äußerster Peinlichkeit. Auffallend ist nur, daß die Frauen und Mädchen den Kopf mit weißen Häubchen bedeckt haben, die sich eng und schlicht ihm anschließen, und daß die Farbe des Bandes daran eine besondere Abzeichnung bildet. Wie die Frauen durch blaue und die Wittwen durch weiße Schleifen sich kennzeichnen, so tragen die älteren Mädchen rosa Bänder und die noch heranwachsenden deren von feuerrother Farbe.

Die Menge der Hin- und Herwandelnden lichtete sich nach und nach, in kleineren und größeren Gruppen; endlich waren sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_645.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)