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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Ragaz.
Von Johannes Scherr.


Der Sommer von 1880 hat, wie jedermann merken mußte, neben den gewohnten ordentlichen Liebenswürdigkeiten unseres lieben „gemäßigten“ Klima's auch noch verschiedene außerordentliche entfaltet. Wir drei Freunde und Stammgäste von Ragaz, welche eine im Propheten Daniel bewanderte Kurgästin die drei Männer Sadrach, Mesach und Abednego – wenn nicht vom nebukadnezarischen Feuerofen, so doch vom kühlen „Quellenhof“ – wunderlich benamsete, wir drei Freunde also hatten im Juni sattsame Gelegenheit, im Thale zwischen dem Piz Alun und dem Falknis häufig binnen Tagesfrist zu erfahren, wie es der Epidermis eines civilisirten Menschen am Nordkap oder aber unter dem Aequator und umgekehrt zu Muthe sei. Am Johannistage, welcher doch von kalenderwegen hätte so anständig sein sollen, etzliche Hochsommerlichkeit zu entwickeln, waren die Berge bis tief herab verschneit und erfreute sich eine Dame beim Morgenspaziergang ihres vorsichtiger Weise mitgebrachten Pelzmantels. Wir durchmaßen mit langen Schritten die große Wandelhalle, eine der Zierden von Ragaz, und führten mehr oder minder anmuthige oder unmuthige Wettergespräche, als mir eine Karte gebracht wurde, welche besagte, daß der liebe alte H. aus Stralsund im „Hof Ragaz“ eingetroffen wäre. Bald kam er selbst, und wir tauschten die Erinnerungen an unser erstes Zusammentreffen am Ufer der reißenden und rauschenden Tamina. Lang, lang war's her, gerade 25 Jahre! Noch ein Jahr früher war ich zum erstenmal nach Ragaz gekommen und zwar in Gesellschaft meines Freundes und Verlegers Otto Wigand, der nun auch schon lange „ruht im Bann des ewigen Schweigens“.

Ach, eines alternden Menschen Fuß stößt überall an Gräber von Solchen, die Freud' und Leid mit uns getheilt hatten. Ja, ja, das Altwerden! Wohl dem, der auch diese schofle Einrichtung der „allgütigen Mutter“ Natur, wie noch verschiedene andere, mit Humor zu nehmen und zu tragen weiß! Es gibt auch in unserer nüchtern-realistischen Zeit glücklicherweise noch solche Humoristen. Im Wartsaal des züricher Bahnhofes war ich auf einen Herrn gestoßen, der mir bekannt vorkam. Ihm ging es mit mir gerade so. Nachdem wir eine Weile vigilirend um einander herumgegangen, trat die Idee in die Phase der Verwirklichung, d. h. wir erkannten uns. Hatten uns so etwa 26 Jährlein nicht mehr gesehen. „Nun, jünger sind Sie gerade nicht geworden, lieber Freund.“ – „Ja, lieber Freund, glauben Sie denn, ich hätte rückwärts wachsen sollen wie ein Kuhschwanz?“

Einen Genuß hat das Alter vor der Jugend voraus: den ruhigen Gedankenaustausch zwischen Freunden, welche über verschiedenes verschieden denken können, aber in den Stürmen des Lebens die Reife oder, mit dem alten Lucretius zu reden, die „Frömmigkeit“ gewonnen haben –

„Mit gleichmüthigem Sinn hinschauen zu können auf alles.“

Demzufolge vermochten alle die Nücken und Tücken unseres, wie bekannt, „gemäßigten“ Klima’s unsere Laune nicht zu trüben. Peripatetiker vom frühen Morgen bis zum späten Abend, sprachen wir mitsammen de rebus omnibus et quibusdam aliis, obzwar unsere Gespräche nicht gerade immer ordonnanzmäßig „reichsfreundlich“ geklungen haben mögen. Weder konservative Hep-Hep-Rufer, noch nationalliberale Kompromißflickschuster würden daran Freude gehabt haben. Auch die Säulenheiligen vom Centrum nicht, obzwar wir am Morgen unseres Abreisetages noch der Einweihung einer zwischen dem „Hof Ragaz“ und dem „Quellenhof“ erbauten katholischen Kapelle durch Seine Gnaden den hochwürdigen Herrn Bischof von St. Gallen aus andächtiger Ferne zusahen.

Unseren Lungen und Beinen mutheten wir nicht mehr zu, als für Beine und Lungen von, wie die Schweizer sagen, „bestandenem“ Alter ziemlich. Wenn ich meine Blicke an den Felswänden des Falknis emporschweifen ließ, kam es mir schier verwunderlich vor, daß ich vor Zeiten einmal da droben gewesen, und wie einer halbverklungenen Sage horchte ich dem, was ein anmuthiges junges Mädchen aus Mainz, welches in den letzten Tagen die langwierige und beschwerliche Ersteigung des Bergriesen kühn unternommen und tapfer ausgeführt hatte, von dem herrlichen drobigen Ausblick rundum und weithin in die Alpenpracht zu erzählen wußte. Alles hat seine Zeit. Es gab eine, wo auch ich eine Art von „Bergfex“ gewesen, obzwar nicht von jener höchsten Potenz der jetzo modischen Bergfexerei, welche zum Frühstück dieses Horn oder jenen Piz „nimmt“ und zum Vesperbrot das so- und sovielte Gletscherjoch „macht“.

Wir fassten die Resolution, daß es für uns zeit-, lungen- und beinegemäß, den Bergmajestäten unsere Huldigungen für diesmal und fortan bescheidentlich von untenhinauf darzubringen. Wer aber Jugend und einige Uebung im Bergsteigen besitzt, sollte während eines Aufenthaltes in Ragaz nicht versäumen, einen oder etliche der umherragenden Gipfel zu erklimmen. Mit dem Guschakopf und dem Fläscherberg beginnend, mag er zum Piz Alun vorschreiten, um dann an den Vasön (fälschlich Fasanenkopf geheißen) sich zu wagen und schließlich gar den Monte Luna, den Falknis, den Kalanda oder den Piz Sol zu „nehmen“. Wer jedoch in Ragaz ernstlich die Kur machen will – ich meine nicht die Damen-, sondern die Wasserkur – der lasse die Bergsteigerei überhaupt bleiben und beschränke sich auf mäßige Bewegung! Niemand sollte jedoch versäumen, von Ragaz auszufliegen – man kann es auch zu Wagen thun – über den Luciensteig nach Vaduz, der Hauptstadt des forellenreichen Reiches Liechtenstein, nach Seewis im Prätigau mit dem Blick auf die Seesaplana, nach dem kaskadengeschmückten Weißtannenthal und endlich nach Vättis. Die Fahrt nach Vättis ist von den genannten die belohnendste. Wo auf der Höhe hinter dem Dorfe Pfäfers der Weg ins Taminathal sich hinabsenkt, erschaut man rechtshin die ganze zwischen den Vasön und den Monte Luna eingespannte Reihe der Grauen Hörner mit ihren phantastisch geformten Felszacken und ihren schimmernden Schneefeldern. Vättis selbst liegt hart am nördlichen Fuße der ungeheuren Felspyramide des Kalanda, von welchem das Dichterwort:

„Aus einem tiefen, tiefen Thal
Steigt auf der Berg als wie ein Stral“ –

buchstäblich gilt. Ueberschreitet man den Bergstrom und geht die kurze Strecke bis zur Basis der untersten Felsterrasse des Kalanda hinan, zu einer Stelle, wo ich in verschiedenen Jahren noch im Monat September die Schneetrümmer einer im Frühling herabgestürzten Lawine vorgefunden habe, so thut sich ein Einblick in das wildschöne Kalfeuserthal auf, aus dessen Hintergrund, falls nämlich unser „gemäßigtes“ Klima der Sonne zu scheinen gerade allergnädigst gestattet, der Sardonagletscher hervorblitzt, der Vater der Tamina.

Weitere Ausflüge der ragazer Kurgäste gehen über Chur, Reichenau und das mit Schlössern und Burgruinen reichgeschmückte Domleschg nach Thusis zur Via mala, welche aber, unmittelbar nach der Quellschlucht von Pfäfers gesehen, keine große Figur mehr macht. Eine solche macht aber die Straße über den Schyn, welche linkshin von Thusis bei der Einmündung der Albula in den Rhein anhebt. Wer einmal dort, sollte den kühn angelegten und wahrhaft prächtig ausgeführten Paßweg hinaufwandern bis zur schwindelnd hoch über die Albula gespannten Solisbrücke. Der Blick hinunter in die Stromschluchten, hinüber zum Piz Beverin, hinauf zu den dräuenden Gehängen des Piz d'Err ist groß. In entgegengesetzter Richtung ziehen die Ausflügler von Ragaz hinunter an den düsterschönen Walensee und dort von Murg oder Mühlehorn hinauf nach Obstalden und auf guter Straße über den Kerenzerberg hinüber nach Mollis im Glarnerland, um auf dem Rückwege in der über dem Bahnhof von Weesen hübsch gelegenen Herberge „Zum Speer“ angenehme Rast zu halten. Ist man aber im Glarnerland, so müßte man ein fühlloser Barbar sein, wollte man das zwischen den Glärnisch und den Wiggis hineingespaltene Klönthal nicht besuchen, mit seinem die Felswände des Glärnisch widerspiegelnden See unbedingt eins der eigenartigsten Hochthäler der Alpen, das einmal Einer – ich glaube, ich war es selbst – treffend mit der Poesie Lenau's verglichen hat. Und thun Sie mir, meine mehr oder minder werthen Damen und Herren, thun Sie mir oder vielmehr sich selber den Gefallen, von Glarus aus auf der jetzo das Linththal hinanrasselnden Eisenbahn bis zum schöngelegenen, heilkräftigen und nahrhaften Bade Stachelberg zu fahren, von da, an den Fätschbach- und Schreienbachfällen vorbei, bis zum Tödihaus im „Thierfehd“ zu wandern und von dort – 's ist ja nicht mehr weit – über die Pantenbrücke, unter welcher, tief im Abgrund, die junge Linth dahintobt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_616.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)