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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


ganz kürzlich aus der Residenz kommen ließ. Sie hatten, wie gewöhnlich, gar kein Interesse dafür, aber der Graf, dem ich vorgestern bei unserer Rückkehr davon erzählte, brennt vor Begierde, sie kennen zu lernen. Sie sehen, wie pünktlich er ist.“

Die alte Dame schien ihre eigenen Ansichten über diese Pünktlichkeit und diesen brennenden Eifer zu haben; denn sie zuckte sehr bezeichnend die Achseln, während der Oberamtsrath im vollen Eifer hinauseilte, um seinen Gast zu empfangen, mit dem er wenige Minuten später wieder eintrat.

Oswald hatte sich äußerlich nicht verändert, und doch war der Eindruck seiner Persönlichkeit ein ganz anderer, als früher. Mit dem Druck der ehemaligen Verhältnisse, mit dem fortwährenden vergeblichen Ringen dagegen war auch jene Verbitterung gewichen, die diesen stolzen, reizbaren Charakter vollständig zu bewältigen drohte. Erst in der Freiheit, in der eigenen Bedeutung war er zur vollsten Entwickelung gelangt. Der herbe Zug in seinem Antlitz hatte sich verloren ebenso wie die einstige Schroffheit und Kälte seines Wesens. Er hatte freilich nicht jene offene, heitere Liebenswürdigkeit, mit der sich einst Edmund alle Herzen eroberte, aber seine ernste, überlegene Ruhe, seine bei aller Einfachheit doch imponirende Haltung zeigten, daß der jetzige Majoratsherr besser zum Herrschen und Befehlen geschaffen sei, als sein verstorbener Vetter es war.

Der Graf kam natürlich einzig und allein der berühmten Dampfmaschine wegen, und einer gewissen Erregung nach, die er zu verbergen sich vergebens bemühte, mußte sein Interesse für diese nützliche Erfindung ein wahrhaft leidenschaftliches sein. Trotzdem hörte er sehr zerstreut der enthusiastischen Schilderung des Oberamtsrathes zu und wandte den Blick nicht von der Thür ab. Er schien von Minute zu Minute irgend etwas zu erwarten, bis ihm endlich die Geduld riß und er sich an die Cousine wandte mit der höchst unbefangen hingeworfenen Aeußerung:

„Fräulein Hedwig befindet sich wohl im Parke? Ich glaube sie beim Vorüberfahren dort bemerkt zu haben.“

Die alte Dame warf ihm einen Blick zu, der deutlich sagte: „dann wärst Du sicher nicht hier bei uns!“ laut aber entgegnete sie mit derselben Unbefangenheit:

„Sie sind im Irrthum, Herr Graf. Meine Nichte ist leider gar nicht zu Hause. Sie hat einen Spaziergang gemacht, wahrscheinlich um die alten Lieblingsplätze ihrer Heimath nach der langen Trennung wieder aufzusuchen.“

Die alten Lieblingsplätze ihrer Heimath! Graf Oswald ließ sich das gesagt sein. Er machte urplötzlich die Entdeckung, daß er eigentlich sehr wenig Zeit habe und schleunigst nach Ettersberg zurück müsse, aber das half ihm wenig. Rüstow nahm das als ein neues Compliment für seine Dampfmaschine, die sein Gast trotz der so sehr beschränkten Zeit in Augenschein nehmen wollte, und schleppte ihn unerbittlich dorthin. Oswald mußte eine ganze Weile die Erklärungen und Auseinandersetzungen des begeisterten Landwirthes anhören, während ihm der Boden unter den Füßen brannte, bis es ihm endlich gelang, sich loszumachen.

Etwas verstimmt über den ungewöhnlich kurzen und eiligen Besuch, kehrte der Oberamtsrath in das Haus zurück.

„Mit dem Grafen ist heute gar nichts anzufangen,“ sagte er zu seiner Cousine. „Er war vollständig zerstreut und hat die Maschine kaum angesehen; jetzt fährt er wie mit dem Sturmwind nach Ettersberg zurück. Wegen eines so flüchtigen Besuchs lohnt es sich ja gar nicht den weiten Weg zu machen.“

„Sie haben den armen Grafen aber auch unverantwortlich gequält,“ spottete das Fräulein. „Eine volle Viertelstunde haben Sie ihn bei Ihrer langweiligen Dampfmaschine festgehalten. Er ist gar nicht deswegen gekommen – er fährt auch gar nicht nach Ettersberg zurück.“

„Und wohin sollte er denn sonst fahren?“ fragte Rüstow, der in seinem Erstaunen über diese Behauptungen sogar die Beleidigung übersah, die man seiner geliebten Dampfmaschine mit dem Beiwort „langweilig“ anthat.

„Wahrscheinlich fährt er gar nicht, sondern schickt unten im Dorfe den Wagen fort und macht gleichfalls einen Spaziergang in den Wald oder in die Berge oder sonst wohin – was weiß ich, wo Hedwig jetzt herumstreift.“

„Hedwig? Was soll das heißen? Sie meinen doch nicht etwa –“

„Ich meine, daß Hedwig nun einmal vom Schicksal dazu bestimmt ist, Gräfin Ettersberg zu werden, und diesmal wird sie es unter allen Umständen. Verlassen Sie sich darauf!“

„Lina, ich glaube, Sie sind nicht recht bei Sinnen,“ fuhr Rüstow auf. „Hedwig und Oswald? Sie haben sich ja niemals leiden können; sie sind über Jahr und Tag getrennt gewesen und haben sich ja auch vorher, während der ganzen Trauerzeit, kaum einige Male bei der Gräfin in Schönfeld gesehen. Das ist unmöglich, absolut unmöglich. Das ist wieder eine von Ihren romantischen Einbildungen.“

„Nun so warten Sie, bis die Beiden zurückkommen,“ sagte das Fräulein mit Nachdruck. „Aber machen Sie sich dann auf den väterlichen Segen gefaßt; denn der wird jedenfalls von Ihnen verlangt. Graf Oswald wird keine Zeit mehr verlieren wollen, und er hat auch lange genug gewartet. Ich fand, es war ein übertriebenes Zartgefühl Hedwig's, daß sie die Heimath und sogar den Vater verließ, um jede frühere Annäherung von jener Seite unmöglich zu machen.“

„Was? Deswegen ist sie mit der Gräfin nach Italien gereist?“ rief der Oberamtsrath, wie aus den Wolken gefallen. „Sie wollen doch nicht behaupten, daß diese Neigung schon bei Edmund's Lebzeiten bestanden hat?“

„Von einer bloßen Neigung ist hier gar nicht die Rede,“ belehrte ihn die Cousine, „sondern von einer glühenden, unbezwinglichen Leidenschaft, die Kämpfe und Qualen genug gekostet haben mag auf beiden Seiten. Hedwig hat mir freilich nie eine Andeutung darüber gemacht; sie verschloß sich hartnäckig auch vor mir, aber ich habe es doch gesehen, wie sie litt unter dem Worte, das sie unüberlegt, ohne sich und ihr Herz zu kennen, einem Andern gegeben hatte. Ich zweifle nicht daran, daß sie es ihm gehalten haben würde, aber was dabei aus ihr und Oswald geworden wäre, das weiß der Himmel.“

Der Oberamtsrath faltete die Hände und sah seine Cousine mit dem tiefsten Respect an.

„Und das alles haben Sie blos beobachtet? Lina, ich finde, Sie sind ungeheuer klug!“

„Sehen Sie das wirklich ein?“ fragte die alte Dame mit Genugthuung. „Sie kommen etwas spät zur Erkenntniß meiner Fähigkeiten.“

Rüstow blieb die Antwort schuldig, aber sein Gesicht verklärte sich förmlich bei dem Gedanken, seinen Liebling, sein vielbewundertes landwirthschaftliches Genie in Zukunft als Schwiegersohn zu besitzen, und in der Freude seines Herzens umarmte er seine Cousine in ungestümer Weise.

„Ich sehe alles Mögliche ein, Lina. Alles, was Sie wollen,“ rief er. „Aber so schnell, wie Sie meinen, wird die Sache doch nicht gehen. Der Graf kann unmöglich Hedwig nachgelaufen sein. Er weiß ja nicht einmal, wo sie ist, so wenig wie wir das wissen.“

Fräulein Lina machte sich lachend aus der Umarmung los. „Das ist seine Sache; darüber wollen wir uns nicht weiter den Kopf zerbrechen. Verliebte haben ein ganz unerhörtes Glück in solchen Dingen: das Ahnungsvermögen pflegt da eine große Rolle zu spielen. Ich glaube es auch nicht, daß Graf Oswald weiß, wo sich Hedwig befindet; denn dann wäre er schwerlich erst nach Brunneck gekommen, aber finden wird er sie, und wenn sie mitten im tiefsten Walde oder oben auf der höchsten Spitze des Gebirges säße. Sie kommen zusammen zurück – darauf gebe ich Ihnen mein Wort, Erich.“

Die mit so großer Zuversicht ausgesprochenen Vermuthungen erfüllten sich beinahe buchstäblich. Oswald war in der That nur bis zum Dorfe gefahren, hatte dort den Wagen fortgesandt und eilte nun zu Fuß den Bergen zu. Das gerühmte Ahnungsvermögen mußte bei ihm wohl besonders stark entwickelt sein; denn ohne auch nur einen Augenblick zu schwanken und zu zögern, schlug er den Weg ein, der zu einer gewissen Waldhöhe führte. Sein Schritt ward immer schneller, immer stürmischer, je näher er seinem Ziele kam, und als er es endlich erreicht hatte, fand er auch, was er suchte. Er hatte es errathen, wohin sich Hedwig's erster Gang in der Heimath richten würde.

Wieder waren die Schwalben gekommen. Aus weiter Ferne trug sie der Flug zurück nach den alten geliebten Stätten. Mit leichten Schwingen zogen sie durch die sonnige Luft, umkreisten Berge und Wälder und flatterten dann nach allen Richtungen hin aus einander, als wollten sie ihre alte Heimath grüßen – die ersten Boten des Frühlings.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_559.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)