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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Er machte sich los und riß an der Klingel. Eberhard trat ein.

„Mein Pferd!“ befahl der junge Graf. „Es soll augenblicklich gesattelt werden.“

„Aber ist denn Alles, was ich Dir vorgehalten habe, umsonst gewesen?“ rief Heideck verzweiflungsvoll, als der Diener sich entfernt hatte. „Kannst Du wirklich noch an die Abreise denken?“

„Nein, ich werde bleiben. Aber ich muß hinaus in’s Freie, wenn ich nicht ersticken soll. Laß mich, Onkel!“

„Erst gieb mir Dein Wort darauf, daß Du nichts Unsinniges, nichts Verzweifeltes unternehmen willst! Du bist jetzt zu Allem fähig. Was soll ich Deiner Mutter sagen?“

„Was Du willst. Ich habe nichts vor, als ein paar Stunden im Freien umherzujagen. Vielleicht wird es dann besser!“

Damit eilte Edmund davon. Der Oheim machte keinen Versuch mehr, ihn zu halten. Er sah, daß hier weder Zureden noch Beruhigen half. Vielleicht war es am besten, den Sturm austoben zu lassen.

Stunde auf Stunde verging, es war Nachmittag, war beinahe Abend geworden, und noch immer kehrte der junge Graf nicht zurück. Im Schlosse wuchs die Besorgniß über sein Ausbleiben mit jeder Minute. Baron Heideck machte sich die bittersten Vorwürfe, daß er den Neffen in einer solchen Stimmung fortgelassen, und er durfte das nicht einmal zeigen, sondern mußte noch Kraft und Besinnung für seine Schwester haben, die der Angst zu erliegen drohte. Sie eilte von Zimmer zu Zimmer, von Fenster zu Fenster und hatte für die Trostesworte ihres Bruders nur ein stummes, verzweiflungsvolles Ablehnen. Sie kannte freilich ihren Sohn am besten und wußte, was zu fürchten stand.

„Es nützt wirklich nichts, Constanze, wenn wir Boten aussenden,“ sagte Heideck, der jetzt neben ihr am Fenster stand. „Wir kennen ja nicht einmal annähernd die Richtung, die Edmund eingeschlagen hat, und das Aufsehen und Kopfschütteln unter der Dienerschaft wird dadurch nur größer. Der Tollkopf muß sich doch nun ausgejagt haben; jetzt, wo es dämmert, wird er sicher schon auf dem Rückwege sein.“

„Oder er ist dennoch abgereist,“ flüsterte die Gräfin, deren Blick nicht einen Moment die zum Schlosse führende Allee verließ.

„Nein!“ entgegnete Heideck mit vollster Bestimmtheit. „Seit ich ihm klar gemacht habe, wen sein Geständniß trifft, steht das nicht mehr zu fürchten. Zu Oswald ist er in keinem Falle, aber –“ Er unterdrückte die Fortsetzung mit Rücksicht auf die Gräfin. Auch er begann jetzt irgend einen Verzweiflungsschritt seines Neffen zu fürchten, eine Lösung, die noch schlimmer war, als das Geständniß an Oswald.

Es war wieder trostloses Schweigen eingetreten, wie so oft schon am heutigen Nachmittage. Da plötzlich fuhr die Gräfin mit einem Ausruf empor und beugte sich weit vor. Heideck, der ihrem Beispiel folgte, konnte nichts entdecken, aber das Auge der Mutter hatte trotz Nebel und Dämmerung den Sohn erkannt, der jetzt am Ende der Allee erschien. Die Selbstbeherrschung der Gräfin war zu Ende; sie dachte nicht daran, daß sie bei der Dienerschaft noch für krank galt, fragte nicht, wie Edmund ihr begegnen würde. Sie wollte ihn nur sehen, nur wieder haben und eilte ihm entgegen, so schnell, daß ihr Bruder kaum folgen konnte.

Sie mußten noch einige Minuten drunten im Vestibül warten, denn der junge Graf, der in rasender Carrière davongesprengt war, kehrte jetzt im Schritt zurück. Das über und über mit Schweiß bedeckte Pferd zitterte am ganzen Leibe, als es endlich stille stand. Es war augenscheinlich dem Zusammenbrechen nahe, und der Reiter schien in einem ähnlichen Zustande zu sein. Er, der sich sonst so leicht aus dem Sattel schwang, stieg heute beinahe mühsam ab, und es kostete ihn sichtliche Anstrengung, die wenigen Stufen bis zu dem Eingange hinaufzusteigen.

Die Gräfin stand an derselben Stelle, wo sie damals den Sohn bei der Rückkehr von seiner Reise empfangen hatte, wo er so stürmisch und glückstrahlend in ihre Arme geflogen war. Heute bemerkte er die Mutter nicht einmal. Seine Kleidung war völlig durchnäßt vom Regen, das Haar lag ihm schwer und feucht in der Stirn, und langsam, ohne aufzusehen, trat er ein und wandte sich nach der Treppe.

„Edmund!“

Der Ruf klang bebend, halb gebrochen. Edmund blickte auf und sah erst jetzt seine Mutter, die dicht vor ihm stand. Sie sprach kein Wort weiter, aber er las in ihrem Auge all die Todesangst und Todesqual der letzten Stunden. Und als sie jetzt die Arme nach ihm ausstreckte, da wich er nicht zurück, sondern beugte sich zu ihr nieder. Seine Lippen berührten feucht und eiskalt ihre Stirn, und leise, nur ihr allein verständlich sagte er:

„Sei ruhig, Mutter! Ich will versuchen, es zu tragen – um Deinetwillen.“




Oswald befand sich bereits seit zwei Monaten in der Residenz und hatte dort die freundlichste Aufnahme gefunden. Justizrath Braun nahm unter den dortigen Rechtsgelehrten eine der ersten Stellen ein und stand dem Sohne seines verstorbenen Freundes in jeder Beziehung helfend und fördernd zur Seite. Er hatte volles Verständniß für die Handlungsweise des jungen Mannes, der sich mit solcher Energie einem äußerlich bequemen und glänzenden Leben entriß, weil er es nicht ertragen konnte, seine Existenz als Wohlthat aus den Händen seiner Verwandten zu empfangen und dafür zeitlebens eine untergeordnete Rolle zu spielen.

Der Justizrath und seine Gattin waren kinderlos, und der junge Gast wurde von ihnen fast wie ein Sohn empfangen und betrachtet. Oswald warf sich mit leidenschaftlichem Eifer in die Arbeit, und das unmittelbar bevorstehende Examen ließ ihm wenig Zeit, an das zurückzudenken, was er in Ettersberg verlassen hatte; aber es befremdete ihn doch, daß gar keine Nachricht von dort eintraf. Auf seinen ersten ausführlichen Brief hatte Edmund allerdings geantwortet – nur wenige Zeilen, die eigenthümlich gezwungen lauteten und ihre auffallende Kürze mit der noch immer nicht ganz geheilten Wunde an der Hand entschuldigten. Der zweite Brief dagegen harrte noch immer der Beantwortung; und doch waren schon Wochen seit seiner Absendung vergangen.

Oswald wußte freilich, daß er mit der Rücksendung jenes Bildes die Brücke zwischen sich und der Gräfin abgebrochen hatte und daß sie jetzt alles daran setzen werde, das Band zu lösen, das ihn noch mit ihrem Sohne verknüpfte; aber es war unmöglich, daß Edmund so schnell und vollständig diesem Einflusse erlag. Wie leichtsinnig der junge Graf sich auch oft zeigen mochte – an der Freundschaft für seinen Vetter hatte er stets treu und unverbrüchlich festgehalten. Er konnte den Jugendfreund nicht in wenigen Wochen vergessen haben. Es mußte etwas Anderes sein, was ihn am Schreiben hinderte.

Es war in den ersten Tagen des December. Oswald hatte das Examen glänzend bestanden und wollte nun sofort seine neue Laufbahn beginnen. Justizrath Braun aber forderte entschieden, daß der junge Mann sich nach den Anstrengungen der letzten Wochen einige Ruhe gönne und sich vorläufig noch als Gast in seinem Hause betrachte. Halb widerstrebend gab Oswald nach; er fühlte freilich selbst, daß er der Erholung bedurfte nach all dem rastlosen Studiren und Arbeiten seit dem vorigen Frühjahr. In dem leidenschaftlichen Ringen nach Selbstständigkeit hatte er seinen Kräften doch etwas zu viel zugemuthet.

Der Justizrath befand sich in seinem Arbeitszimmer und hatte soeben die Geschäftsstunden beendigt, als Oswald eintrat und einen Brief, den er in der Hand hielt, zu der übrigen Correspondenz legte, die gewöhnlich um diese Zeit von dem Diener zur Post befördert wurde.

„Haben Sie nach Ettersberg geschrieben?“ fragte der alte Herr aufblickend.

Oswald bejahte; er hatte Edmund die Nachricht von dem glücklich bestandenen Examen mitgetheilt. Darauf mußte doch endlich eine Antwort erfolgen; dieses lange Schweigen fing wirklich an, beunruhigend zu werden.

„Es war soeben hier von den Gütern Ihres Vetters die Rede,“ warf der Justizrath hin. „Einer meiner Clienten beabsichtigt, dort bedeutende Holzankäufe zu machen, und zog mich über einige Punkte des Vertrages zu Rathe.“

Oswald wurde aufmerksam. „Bedeutende Holzankäufe? Das muß ein Irrthum sein. In den Ettersberg’schen Waldungen ist während der letzten Jahre so viel niedergeschlagen worden, daß sie der äußersten Schonung bedürfen. Mein Vetter weiß das und kann sich unmöglich zu einem derartigen Schritte haben bestimmen lassen.“

Der Justizrath zuckte die Achseln. „Trotzdem kann ich Ihnen versichern, daß sich die Sache so verhält. Mein Client verhandelt allerdings nicht mit dem Grafen selbst, sondern mit dessen Administrator; aber dieser muß doch wohl zu solchen Abschlüssen ermächtigt sein.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_483.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)