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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


hatten es erfahren, wie der Frühling gleichsam über Nacht aufwachen und wie siegreich er sich Bahn brechen kann.

Jetzt war es Herbst geworden. Es war freilich ein schöner, klarer Tag, mit milder, weicher Luft und hellem Sonnenschein, aber doch immer ein Herbsttag. Das Laub, das noch so dicht und voll an den Zweigen hing, hatte schon jenen leisen, bräunlichen Schimmer, der auf ein baldiges Vergehen deutet. Auf den Wiesen war die bunte Blumenpracht verschwunden, nur die Herbstzeitlose zeigte noch hier und da ihre matten Farben, und die Schwalben, die dort oben am Himmel in langen Schwärmen hinzogen, sammelten sich schon zum Fluge nach dem Süden. Abschied nehmen, hieß die Losung, in der Natur wie bei den Menschen, Abschied von dem Sommer, von der Heimath und dem Glücke.

Hedwig brach zuerst das drückende Schweigen, das nach den letzten Worten eingetreten war.

„Die Schwalben wollen uns auch verlassen,“ sagte sie, nach oben deutend. „Sie ziehen fort.“

„Und ich mit ihnen,“ ergänzte Oswald. „Nur, daß ich für immer gehe.“

„Für immer? Sie werden doch bisweilen nach Ettersberg kommen?“

Es lag etwas wie verhaltene Angst in der Frage; Oswald sah zu Boden.

„Ich glaube kaum, daß mir das möglich sein wird. Ich werde wenig Zeit haben, und überdies – wer sich so vollständig von seinem bisherigen Lebenskreise losreißt, wie ich, der thut am besten, ihm für's Erste fern zu bleiben und sich ganz und voll der neuen Sphäre zuzuwenden. Edmund will das freilich nicht einsehen. Er kennt eben nicht den Zwang der Pflichten.“

„Und doch sorgt er sich mehr um Sie und Ihre Zukunft, als Sie glauben,“ warf Hedwig ein.

Oswald lächelte halb verächtlich. „Er soll sich die Sorge ersparen. Ich gehöre nicht zu denen, die etwas unternehmen, was über ihre Kräfte geht, und dann auf halbem Wege muthlos die Hände sinken lassen. Was ich unternommen habe, werde ich wohl auch durchführen, und in jedem Falle mache ich mich damit frei von den Fesseln der Abhängigkeit.“

„Drücken Sie diese Fesseln denn so schwer?“

„Ja, zu Boden!“

„Herr von Ettersberg, Sie sind ungerecht gegen Ihre Verwandten.“

„Und undankbar,“ fiel Oswald mit ausbrechender Bitterkeit ein. „Das haben Sie oft genug von meiner Tante gehört, nicht wahr, mein Fräulein? Sie mag ja von ihrem Standpunkte aus Recht haben. Ich hätte mich vielleicht geduldiger in die Rolle finden müssen, die das Schicksal mir auferlegte. Ich habe das aber nun einmal nicht gekonnt. Sie wissen nicht, was es heißt, sich fortwährend unter einen fremden Willen zu beugen, wenn der eigene längst mündig geworden ist, sich in jedem Streben gehemmt, in jeder Regung unterdrückt zu sehen, und nicht einmal das Recht des Widerspruches zu haben. Ich weiß, daß meine Zukunft unsicher, vielleicht dornenvoll ist, daß ich meine ganze Kraft dafür einzusetzen habe, aber es ist meine Zukunft, mein Leben, das mir fortan allein gehört, und nicht immer und ewig an der Kette fremder Wohlthaten geleitet wird. Und wenn ich zu Grunde ginge in der selbsterwählten Laufbahn, sie giebt mir wenigstens das Recht auf ein eigenes Schicksal.“

Er hatte sich emporgerichtet bei den letzten Worten, und seine Brust hob sich unter einem tiefen, freien Athemzuge. Es war, als sinke mit der Vergangenheit die ganze so stumme und doch so schwer getragene Last von der Seele dieses Mannes, der so kühn und trotzig dastand, daß man wohl sah, er war im Stande, den Kampf mit der Welt aufzunehmen und durchzufechten, wie starr und feindselig sie ihm auch entgegentreten mochte. Hedwig begriff zum ersten Male ganz, was diese stolze, unbeugsame Natur gelitten hatte unter einem Loose, das so Vielen beneidenswerth erschien, weil es den Glanz des Ettersberg'schen Hauses theilte.

„Und nun muß ich Ihnen Lebewohl sagen,“ begann Oswald von Neuem, aber seine Stimme war auf einmal klanglos geworden. „Ich kam ja, um Abschied zu nehmen.“

„Edmund erwartet Sie im December, wenn auch nur auf einige Tage,“ sagte Hedwig leise, mit stockender Stimme. „Er rechnet mit Bestimmtheit auf Ihre Gegenwart bei – bei unserer Trauung.“

„Ich weiß es, und weiß auch, daß er es mir als Lieblosigkeit auslegen wird, wenn ich fern bleibe. Mag er es thun – ich muß mich eben darein finden.“

„Sie wollen also nicht kommen?“

„Nein!“

Oswald fügte kein einziges Wort hinzu, keinen Vorwand, der ja doch nicht geglaubt worden wäre. Nur sein Auge tauchte tief in das Hedwig's und gab die Erklärung für dieses so herb klingende Nein. Es war verstanden worden – das sah er an dem Blick, der dem seinigen antwortete, aber wie wild auch das Weh des Scheidens in den beiden jungen Herzen aufstürmen mochte, ausgesprochen wurde es nicht.

„So leben Sie wohl, Herr von Ettersberg,“ sagte Hedwig, ihm die Hand reichend.

Er beugte sich nieder; es waren ein Paar heiße, zuckende Lippen, die sich auf die bebende Hand preßten, welche sich ihm entgegenstreckte, und sie allein zeigten, wie es um Oswald stand. Schon in der nächsten Minute ließ er die Hand fahren und trat zurück.

„Vergessen Sie mich nicht ganz, mein Fräulein – leben Sie wohl!“

Er ging. Hedwig war allein. Ihre Hand griff wie unwillkürlich in die Gebüsche, um sie zurückzubiegen und den Scheidenden noch einmal zu sehen, aber es war zu spät; er war bereits hinter den Bäumen verschwunden. Als das Laubwerk wieder zusammenschlug, sanken die ersten welken Blätter herab auf das junge Mädchen, das wie unter einer ernsten Mahnung zusammenschauerte. Ja wohl, es war Herbst geworden, wenn die Landschaft ringsum sich auch noch in goldenes Sonnenlicht tauchte.

Jener rauhe stürmische Frühlingstag war doch so reich an Verheißungen gewesen mit seinem unsichtbar mächtigen Leben und Werden, mit seinen tausend geheimnißvollen Stimmen, die ringsum zu flüstern schienen. Jetzt waren all diese Laute verstummt; das Leben hatte ausgeblüht und neigte sich langsam zum Vergehen. Es war so leer und still überall geworden.

Hedwig lehnte stumm und bleich an dem Geländer des Altans; sie weinte nicht, regte sich auch nicht; ihr Blick streifte nur mit unendlich schwerem, sehnendem Ausdruck über die Bergkette hin und hob sich dann empor zu den Wolken, wo die Wandervögel in langen Zügen hinschwärmten. Heute senkten die Schwalben sich nicht mehr grüßend und glückverheißend nieder wie damals; sie zogen in unerreichbarer Höhe dahin, der blauen Ferne zu, und nur ganz fern und leise, wie halb verweht, klang ihr grüßender Laut hernieder, ein letzter matter Wiederhall jenes Wortes, das hier unten in so heißem Trennungsweh ausgesprochen wurde: Lebewohl!




Es war am nächstfolgenden Tage, dem letzten, den Oswald in Ettersberg zubringen sollte. Graf Edmund war noch nicht von seinem Jagdausfluge zurückgekehrt, wurde aber stündlich erwartet, dagegen war Baron Heideck schon am Vormittage aus der Residenz eingetroffen. Er hatte für gut befunden, dem Feste, das mit der Mündigkeitserklärung seines Neffen zugleich die Veröffentlichung von dessen Verlobung brachte, in demonstrativer Weise fern zu bleiben; erst jetzt, nach mehr als zwei Monaten, hatte er sich zu einem kurzen Besuche in Ettersberg entschlossen. Obwohl die Thatsache jener Verlobung nicht mehr zu ändern war, schien es doch eine lebhafte Debatte deswegen zwischen den Geschwistern gegeben zu haben. Sie waren über eine Stunde lang mit einander allein geblieben, und die Vorwürfe Heideck's waren um so weniger wirkungslos geblieben, als seine Schwester in der That schon im Stillen ihre „Uebereilung“ bereute, wenn sie es vorläufig auch noch nicht zugeben wollte.

Die Gräfin hatte sich endlich sichtlich verstimmt in ihr Zimmer zurückgezogen. Sie saß vor ihrem Schreibtische und hatte vermittelst des Druckes einer verborgenen Feder das geheimste Schubfach desselben geöffnet. Die Unterredung mit dem Bruder mochte wohl alte Erinnerungen berührt oder wenigstens wach gerufen haben; denn jedenfalls hing das, was die Gräfin jenem Fache entnommen hatte, mit alten Erinnerungen zusammen. Die kleine, kaum handgroße Kapsel, die dem Anscheine nach ein Bild enthielt, hatte wahrscheinlich Jahre lang unberührt an ihrem Platze gelegen; daß sie aus einer weit zurückliegenden Zeit stammte, das zeigten sowohl die altmodische Form, wie die verstaubte und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_431.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)