Seite:Die Gartenlaube (1880) 347.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

uneingeladen, zufällig zusammengefunden, die Nacht war darum auch noch nicht weit vorgerückt, als die Säle sich leerten.

Nur Nikitine blieb zurück. Solche Momente waren es gerade, in welchen er ihr am willkommensten erschien; denn sein Geplauder half ihr, über die Stunden der Schlaflosigkeit, wie sie das Alter heimsuchen, leichter hinwegzukommen. Sie setzte sich dann in ihrem allerliebsten kleinen Schreibzimmer vor einen Ofenschirm, dessen Oberfläche eine Mosaik von grotesken Zeichnungen, Carricaturen und Bilderrätseln war. Für den Gesellschafter der alten Frau galt es dann, die einschläfernde Wirkung, die das Anstarren und Entziffern dieser bunten Malereien hatte, zu beseitigen oder auch, wenn das nicht gelingen wollte – zu unterstützen.

Die Gräfin vernahm gern die pikante Chronik der Salons aus dem Munde ihres Freundes. Er verstand es, Geschichten zu erzählen, die Niemand gewagt hätte vor ihr Ohr zu bringen, weil nicht leicht sonst Jemand die Form gefunden hätte, in der sie dergleichen vertrug. Er aber lachte in ihrer Gesellschaft wie sonst nirgends, ohne den Zwang, den er überall beobachtete, kindisch, ausgelassen.

„Sie ermuntern mich zu stark, Nikitine,“ sagte die Gräfin, als an diesem Abend wieder einmal sein helles Gelächter scholl; „ich muß Ihre Fröhlichkeit dämpfen: auf welchem Punkt sind Sie gegenwärtig mit Léonide?“

Er wurde sogleich überaus ernsthaft und antwortete:

„Sie ist mein Tod. Ich gebe Ihnen die Versicherung, ich sterbe an ihr.“

„Ich bin nahe daran zu lachen, wie Sie,“ erwiderte die Gräfin; „denken Sie gar nicht daran, junger Mensch, daß ein Schmerz nicht wahr sein kann, der nur in dem Moment wahr ist, in welchem Sie daran erinnert werden, nachdem Sie noch einen Augenblick früher wie ein sorgloses Kind gelacht haben?“

Er schwieg eine volle Minute.

„Und weshalb war Léonide heute Abend nicht hier?“ fragte er endlich, ohne auf die Reflexion der Gräfin weiter einzugehen.

„Ich habe die Fürstin gebeten,“ entgegnete sie, „aber nicht nur, daß sie nicht kommen wollte, sie hat mir auch die Meinen entführt, meinen Neffen und meine Nichten.“

„Ich habe nicht gewußt, Gräfin, daß Sie Nichten besitzen. Wer sind Ihre Nichten? Hat Sergey Iwanowitsch Schwestern?“

„Sie machen sich den Scherz, Nikitine, dies immer wieder zu sagen und zu fragen. Das ist für die Situation wohl ausgedacht; denn es langweilt mich; ich fange an, die Augen zu schließen.“

„Man ermuntert Sie immer wieder, Gräfin, wenn man von Sergey Iwanowitsch spricht. Welche ist Ihre Nichte? Hat er noch immer nicht gewählt?“

„Es ist schwer,“ erwiderte sie, „die reizenden Geschöpfe sind aus dem Grunde Schwestern, um die Wahl zur Qual zu machen.“

„Ich, für meine Person, ich hätte bald entschieden,“ sagte er mit großem Ernste.

„Wahrscheinlich für Beide,“ lachte sie, „es waltet aber in der That ein merkwürdiger Unterschied zwischen den Mädchen. Die Jüngere, Milinka, mein besonderer Liebling, ist voll Gedanken, Schwärmerei, Poesie; sie faßt das Leben ideal auf. Es giebt kein Unglück, keinen Schmerz, woraus sie nicht eine höhere Betrachtung zöge. Darum haßt sie auch die frivole Welt und sehnt sich nach der Einsamkeit ihres väterlichen Hauses.“

„Ein angenehmes Haus,“ scherzte Nikitine, „wo man kein Mäusegift braucht; die armen Thiere sind entflohen, weil sie niemals etwas in Küche und Keller gefunden haben.“

„Es ist nicht mehr so arg; mein Neffe hat ein wenig Ordnung geschafft. Das hat mir der lustige Vater der Mädchen, Towaroff, bevor er auf das Gut zurückkehrte, selbst voll Enthusiasmus erzählt.“

„Und die Aeltere, Gräfin?“

„Matrjona ist froh, in der Welt zu sein; ich glaube, man wird sie nur schwer zurückbringen. Das wäre nichts für Sergey, der ähnlich wie Milinka denkt. Matrjona ist harmlos, heiter und hat einen praktischen Geist. Ich glaube, sie würde sehr gut für Sie passen, mein Lieber. Dabei hat sie die unvergleichliche Gabe, wenn man Aerger und Verdruß hat, praktisch, wie sie ist, die Sachen so geschickt zu wenden, daß sie ganz leidlich werden.“

„Gleichviel! Ueber Aerger und Verdruß hilft der eigene Leichtsinn am besten hinweg. Ich habe mit Ihnen, Gräfin, denselben Liebling: Milinka. Schade nur, daß sie für Weltabgeschiedenheit schwärmt, aber – wer weiß?“

Die Gräfin lachte.

„Und Léonide? Das Bild auf dem Schirm hier zeigt einen Schmetterling mit einem einzigen Flügel; den andern hat er sich verbrannt.“

„Warum rühren Sie immer an die brennende Wunde?“ fragte der junge Mann; „Sie sind grausam, Frau von Tschatscherin. Léonide spielt mit mir; sie hat mich für eine Zeit verbannt; ich darf sie nicht sprechen, auch wenn ich ihr zufällig begegne, bis sie mir ein Zeichen giebt. Haben Sie kein Gefühl für solches Elend?“

Die Gräfin schloß die Augen, statt zu antworten.

„Der Vorhang fällt,“ rief er gleich wieder lachend, „das Stück ist aus. Schlafen Sie wohl!“

Die Gräfin war noch lange nicht schlafbedürftig. Sie hatte den Freund sich entfernen lassen, weil sie ihn bei der Heimkehr der Mädchen von der Fürstin Léonide Romalow nicht mehr anwesend wissen wollte. Jetzt lauschte sie geduldig, ob nicht der Wagen mit den Heimkehrenden in den Thorweg des Palastes rolle.

Die Fürstin Léonide Romalow war eine Französin und noch nicht zwanzig Jahre alt. Schön und voll Sanftmuth, wenn auch nicht gerade lebhaften Geistes, hätte sie ein besseres Loos verdient, als, kaum aus dem Kloster gekommen, in welchem sie erzogen worden war, halb aus Unschuld, halb gezwungen, einen Mann zu heirathen, den sie früher nur zweimal gesehen hatte, und der, wie man es hätte nennen können, heimlich blödsinnig war.

Er handhabte die gebräuchlichen Umgangsformen wie ein Automat und sprach die nöthigen „liebenswürdigen“ Floskeln, die man auch einem Papagei hätte beibringen können, zur rechten Zeit. Uebrigens war er schweigsam und in sich gekehrt, weil total gedankenlos, was ihm einen Anstrich von Trauer oder Blasirtheit verlieh. Dies genügte, um ihn bei seinem regelrechten Benehmen und seiner vornehmen Erscheinung für einen vollendeten Gentleman und selbst für einen interessanten Mann zu halten.

Erst wenn dieses äußere Wesen zufällig durchschaut werde konnte, entdeckte man, daß Fürst Romalow ein Cretin war. In seinem Vaterlande, unter seinen Standesgenossen, war dies ziemlich allgemein bekannt. Darum schickte ihn seine Familie, damit er doch irgend einen Zweck auf Erden erfülle, nach Frankreich, um ihm dort eine Frau zu verschaffen. Man gab ihm einen klugen Begleiter, einen welterfahrenen Hausbeamten auf die Reise mit, und bestochen von dem ungeheueren Reichthum des Fürsten und seine wahre geistige Beschaffenheit nicht ahnend, verstand sich eine hochadelige, durch Revolutionen und Krieg verarmte Familie dazu, ihre schöne Tochter mit ihm zu verbinden.

Léonide, so unerfahren sie war, begann schon bei der Trauung auf seinen Zustand zu schließen. Im Augenblicke, als der Priester vor dem Altar ihr Jawort verlangte, flüsterte ihr der Bräutigam „Nein!“ in's Ohr, aus keinem anderen Grunde, als weil er selbst eben „Ja!“ gesagt hatte und eine Abwechselung habe wollte.

Schon der Umstand, daß in solchem Augenblicke der Braut in's Ohr gesprochen wurde, machte ungeheueres Aufsehen in der Kirche, und der Priester, um es rasch zu beenden, nahm das Stammeln der tödtlich erschreckte Léonide für das verlangte Wort, schon weil er ohnehin nicht vermuthen konnte, daß sie etwas Anderes hätte sagen wollen.

Noch bevor das Paar im Petersburg angelangt war, hatte Léonide vollständige Gewißheit, von welcher Art der Mann war, den man ihr gegeben. Am meisten jedoch erschreckten sie Momente, in denen er ein wenig zu denken, sein Innenleben zu erwachen schien. Die Selbstbesinnung gab sich als Sucht zu tyrannisiren, als kleinliche Bosheit kund.

Vergebens suchte Léonide Anlehnung, Schutz, Vertheidigung bei den Verwandten des Fürsten. Man verübelte ihr jede Klage; der Geisteszustand ihres Mannes sollte sozusagen todtgeschwiegen werden. Verlassen und vereinsamt, entwarf sie in schlaflosen Nächte Pläne, zu entfliehen. Sie hatte in den französischen Colonien Amerikas einen kinderlosen alten Oheim, der sie sehr liebte, sie mit offenen Armen empfangen, ihr ein sicheres, gegen alle Welt vertheidigtes Asyl geboten hätte. Immer deutlicher arbeitete ihre Phantasie an der Ausführung dieses Gedankens.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_347.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)