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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


formelles auch ein moralisches Recht sei, oder ob ich nicht vielmehr verpflichtet wäre, Dir diesen Rest Deines Vermögens zu retten, der genügt hätte, Dir wenigstens für Deine Person den Dir so lieb gewordenen Aufenthalt in der Stadt zu sichern.“

„Ich werde ihn kaum vermissen,“ bemerkte sie leise und zur Erde blickend. „Vielleicht weniger als Du das Aufgeben Deiner politischen Thätigkeit, und wenn es möglich wäre – vielleicht ohne die Last eines Hausstandes –“

„Laß das!“ unterbrach er sie wohlwollenden, aber bestimmten Tones, und dann fügte er weicher, beinahe wehmüthig hinzu: „Vielleicht wird uns der Abschied minder schwer, wenn wir so Hand in Hand fortgehen.“ Sie fühlte den herzhaften Druck, der die Beziehung der Worte noch deutlicher machte: waren doch Jahre vergangen, seit dieses Freundschaftszeichen aus ihrem Verkehr verbannt geblieben. Auch sie erwiderte den Druck, als sie aber das gesenkte Auge befangen zu ihm erhob, gebrach es ihr doch am rechten Muthe über die Vergangenheit zu sprechen. Auch war er selbst zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt, um ihr dazu Raum zu lassen. Seufzend sagte er: „Ich wollte, Deine Geschwister nähmen ihr Opfer so leicht auf sich wie Du das Deine.“

„Meine Geschwister?“

„Sie sind bis zu ihrer Volljährigkeit gleich Dir an Heinrich, der ihr Vormund ist, und an das Geschäft gewiesen. Widerspricht eins von Euch der Liquidation oder dem Verkaufe aus freier Hand, so wird das Gericht den Concurs in die Hand nehmen, und dann ist die Revision der Bücher unvermeidlich.“

„O, so laß uns doch keinen Moment zögern!“ fiel Lisa erregt ein, und jetzt preßte sie seine Hand zwischen ihre beiden. „Hilf mir, daß wir nicht scheitern! Schicke zu Richard, und wenn er, wie ich fürchte, schon nach Sternberg abgereist ist, so will ich ihm sofort nachreisen. Bis morgen kann ja hier Alles angeordnet sein. Ich gehe gleich jetzt daran.“

Sie nickten einander zu und trennten sich.




5.

Ueber dem weiten Hügellande lag eine frische Schneedecke; noch immer fielen so dichte Flocken, daß der Kutscher und das Lederdach des langsam auf der Straße sich fortbewegenden Schlittens schon von einer weißen Kruste überzogen waren. Die Pferde, plumpe und dabei abgemagerte Proletarier, arbeiteten sich nur mühsam vorwärts und nickten stoisch zu den ihnen zeitweise von ihrem Meister zugebrummten Flüchen.

Jetzt hoben sie plötzlich die gesenkten Köpfe; die Schellen schienen einen lauteren Ton anzunehmen, weil der vorhin frei austönende Klang nun von den Wänden eines Fichtenwaldes abprallte, in den sie einfuhren. Die Schneewehen, welche auf der offenen Straße mitunter meterhoch quer über dem Wege gelegen, hatten nunmehr ein Ende, und als ob den Gäulen die Annehmlichkeiten der glatteren Bahn recht klar gemacht werden sollten, flog die Peitsche in eindringlicher Aufmunterung über sie hin, worauf es in rascherem Tempo vorwärts ging.

Die einzige Insassin, welche sich, dicht in Pelze gehüllt, in die Ecke des alten auf Kufen gestellten Wagengehäuses drückte, achtete nicht auf die lebhaftere Gangart der Pferde, wie sie auch zuvor der Verzögerungen, des zeitweiligen Schwankens und Steckenbleibens kaum inne geworden. Sie hatte keine Eile; Zweck und Ziel ihrer Fahrt waren beinahe ihrem Gedächtniß entschwunden und tauchten nur ab und zu vor ihr auf, etwa wie durch das gleichmäßig treibende Geflocke dann und wann ein an der Straße stehendes Haus, ein Bildstock, ein Wegweiser zu ihr hereinblickte, um gleich wieder zu verschwinden. Sie sah in das Schneegestöber hinaus, bis Schwindel sie erfaßte und sie die Augen schließen mußte. Ihr war gewesen, als sei sie emporgehoben, immer höher und höher, endlos bis in die Ewigkeit – sie allein; alles Andere blieb zurück, und so schwebte sie aufwärts in furchtbarer erstarrender Einsamkeit.

Sie schauderte trotz der warmen Kleidungsstücke und Decken. Es waren kostbare Pelze, die man in dem elenden Fuhrwerk nicht gesucht haben würde. Wie seltsam nahm sich der zarte Flaum des Edelmarders neben diesem verschrumpften Leder, dem zerfetzten Sitze und der über rissige Bretter hingebreiteten Strohschicht aus, durch die der kalte Wind zog!

Es war, so viel sie sich erinnerte, das erste Mal in ihrem Leben, daß sie in einem solchen Miethgefährte saß. Von Kindheit auf an Luxus gewöhnt, hatte sie immer eine elegante Equipage zur Verfügung gehabt; die feurigsten Gespanne waren ihr nicht schnell genug gewesen. War diese Fahrt ein Symbol für den Wechsel ihres Lebens, eine bedeutungsvolle Mahnung an die Gestaltung der Zukunft?

Warum hatte ihr Gatte nicht dafür gesorgt, daß sie von Sternberg aus abgeholt wurde? Warum hatte er, da er die erbärmliche Verfassung des telegraphisch bestellten Fuhrwerks sah, ihr nicht das ihn erwartende, von Riefling herübergekommene Gefährt zur Verfügung gestellt?

Selbst Gretchen hatte daran Anstoß genommen, daß Mama in die „häßliche schwarze Schachtel“ stieg, und ängstlich gefragt, warum dieselbe nicht auch in dem schönen rothen Schlitten mitfahren dürfe. Doch er schien die Frage zu überhören und hatte das Kind nur angeeifert, Mama Adieu zu sagen.

Ach, das war ja nicht das Einzige, war das Mindeste, was die jüngste Vergangenheit ihr an quälenden Räthseln aufgegeben hatte. Warum ließ ihr Gatte sie überhaupt mit einem Male allein nach Sternberg fahren, während er selbst mit Gretchen sich direct nach Riefling begab? Warum war sein ganzes Wesen seit diesem Morgen in so beängstigender, unerklärlicher Weise verwandelt? Der gestrige Tag hatte doch so beglückend, so hoffnungsvoll geschlossen! Von dem Momente an, wo sie Hand in Hand am Fenster gestanden und er der Hoffnung Worte geliehen, daß sie hinfort auf ganz andere Weise ihren Lebensweg verfolgen würden, hatten sie freilich nur wenig mit einander gesprochen. Jedes hatte die Stunden zu gleichem Zwecke, wenn auch in verschiedener Richtung, benützt: es galt, rasch die Vorbereitungen zur Reise zu treffen. Die flüchtige halbe Stunde am Abendeßtische, während welcher Gretchen plauderte und der servirende Diener ab- und zuging, hatte keine Anlaß zu neuem Aussprechen geboten; nur einige allgemeine Bemerkungen über inzwischen getroffene Maßregeln waren so nebenbei ausgetauscht worden. Ernst und von Sorge in Anspruch genommen, wenn auch nicht gerade kummervoll, sah Witold allerdings dabei aus, und er entschuldigte auch seinen baldigen Aufbruch mit einer Reihe noch zu erledigender Geschäfte und hauptsächlich parlamentarischer Arbeiten, die in seine Hände gelegt waren und nun noch geordnet und übergeben werden mußten. Doch bei all dem war in seinem Benehmen und selbst in den wenigen Worten, die er sprach, eine gewisse Offenheit und Wärme nicht zu verkennen gewesen, von denen sich Lisa eigenthümlich wohlthuend berührt fühlte.

Ueber Nacht aber war ein Frostreif gefallen, unter dem alles jungtreibende Leben erstarrt schien.

Die frühe Stunde, zu der sie Beide mit dem Kinde das Haus verließen, die Hast des Aufbruchs, die Unruhe bis zu denn Augenblicke, wo man die Plätze im Eisenbahnzuge eingenommen, verhinderten Lisa die Veränderung zu bemerken. Dieses ungewohnte Aufraffen zu einer in dieser Jahreszeit eigentlich noch nächtlichen Fahrt und die Nachwehen der durchwachten letzten Nächte machten sich in Erschöpfung und überwältigendem Schlafe geltend. Auch Gretchen war bald wieder eingeschlummert, schon war ein großer Theil der Reise zurückgelegt, als die Beiden erwachten und in den scheinbar noch immer dämmerigen Morgen und das dichte Flockengewimmel hinaussahen.

Während Gretchen sich jedoch der Lust daran freute, fiel Lisa's Blick auf den ihr gegenüber Sitzenden, und sie erschrak über die Blässe seines Gesichts und den finsteren harten Ausdruck in demselben, über das tiefliegende und geradezu feindselig auf sie gerichtete Augenpaar. Waren das dieselben Augen, die gestern so wunderbar bewegt und in die Seele dringend auf sie geschaut?

Er wendete sich wohl sofort zur Seite, als er ihrem Blicke begegnete, aber in seinem Gesicht ging keine Wandlung vor sich, und sein ganzes Wesen war eiskalt. Endlich hatte sie dann auch das peinlich Ueberraschende erfahren, daß ihre Voraussetzung, sie würden mit einander nach Sternberg fahren, eine irrige war.

Mit kurzen Worten, durch immer schüchterner werdende Bemerkungen von ihrer Seite veranlaßt, gab Witold bruchstückweise die Erklärung ab, daß er nicht die Absicht habe, sie nach Sternberg zu begleiten; ihre Mission daselbst betrachte er als eine innere Frage der Familie, die ihn weiter nicht betreffe.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_171.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)