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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

jedesmalige wirthschaftliche Verfassung der Gesellschaft ist die tatsächliche Grundlage, aus welcher sich der gesammte Ueberbau der politische und rechtliche Einrichtungen, der philosophischen und religiösen Anschauungen eines Volkes und einer Zeit an letzten Grunde ableiten läßt. Dies ist die allgemeine Geschichtsanschauung von Marx, deren grob materialistische Tendenz er durch seinen talmudistischen Scharfsinn und sein unvergleichliches Wissen in allen Einzelnheiten mit zäher Ausdauer zu begründen versucht hat und noch versucht.

Auf unser Jahrhundert angewandt, führt ihn diese Theorie zur Lehre von der gänzlichen Verwerflichkeit der heutigen Gesellschafts- und Staatsordnung. Die wirthschaftliche Grundlage der modernen Culturstaaten ist unstreitig das Sondereigenthum, welches seit 1789 eine noch weit schärfere Ausbildung erlangt hat, als es jemals früher hatte. Dieses Sondereigenthum ist aber nach Marx nichts anderes, als ein dauernder Raub der besitzenden an den arbeitenden Classen. Mit den älteren englischen Volkswirthen erkennt er in der Arbeit die alleinige Quelle aller Werthe; der Unterschied zwischen ihrem Lohne und dem Preise ihres Erzeugnisses ist die Aneignung unbezahlter Arbeit seitens der Unternehmer, die Ausbeutung der Arbeiter, welche allein die in den Händen der besitzenden Classen sich häufende Werthsumme schafft. Darnach ist das Sondereigenthum die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, des socialen Elends, der geistigen Herabwürdigung, der politischen Abhängigkeit. Das einzige Mittel, die gesittete Menschheit noch vor heillosem Verfalle zu erretten, ist seine gänzliche Beseitigung, das will sagen, die Durchführung des Gemeineigentums an allen Arbeitswerkzeugen, großen wie kleinen, von dem Grund und Boden der Erdoberfläche an bis herab zur letzten Schlosserfeile.

Nun aber würde diese Erkenntniß – immer nach Marx selbst – an und für sich äußerst unfruchtbar sein. Ergäbe sie sich rein aus Forderungen der Vernunft, und fände sie noch so lebhaften Anklang, so würde sie doch kein Brett und keinen Stein in der bestehenden Eigenthumsordnung verrücken, denn nicht was nach geistiger Erkenntniß sein soll, sondern was in wirtschaftlichen Dingen ist, entscheidet über die Geschicke der Welt. Soll also das Gemeineigentum jemals die wirthschaftliche Grundform des Völkerlebens werden, so ist das Ziel nur dadurch zu erreichen, daß es sich von selbst aus dem Sondereigenthum entwickelt. Und diesen Nachweis sucht denn auch Marx zu führen, wiederum mit großem Aufwande mühsamen Scharfsinnes. Er stellt die gegenwärtige Wirthschaftsform als Vorschule einer communistische Epoche dar, indem er voraussetzt, daß unter der Herrschaft des freie Wettbewerbes der große allmählich den kleinen Besitz aufsaugen, nach und nach alles Eigenthum sich in den Händen einer verhältnißmäßig geringe Anzahl von Personen sammeln wird. In diesen großen Unternehmungen würden dann aber die Arbeiter so an das Gefühl der Gleichheit, an das Zusammenarbeiten gewöhnt werden, sie würden so viel Geschäftskenntniß erlangen, daß, wenn einmal die Entwickelung des Sondereigenthums dazu geführt hat, daß eine ungeheuere Mehrzahl von Besitzlosen einer winzigen Minderheit von Besitzenden gegenüber steht, alsdann auch kinderleicht die „capitalistische Spitze“ abgestoßen, die „Enteigner enteignet“, kurzum die capitalistischen Unternehmungen in communistische verwandelt werden können.

Für die praktisch-politische Propaganda solcher Anschauungen erblickten Engels und Marx in dem „Bunde der Communisten“ ein Gebilde, das nur einer verbessernden Umgestaltung bedurfte, um ein wirksames Werkzeug zu werden. Es galt, seine communistischen und internationalen Tendenzen klarer und schärfer zu gestalten, sein geheimes Verschwörertreiben durch eine aussichtsvollere Taktik zu ersetzen. Diese Taktik wieder ergab sich ganz von selbst aus einer Theorie, deren Endziel der auf das Gemeineigenthum gegründete Zukunftsstaat ist. Denn, angenommen, die alleinige Quelle alles menschlichen Elends sei das Sondereigenthum. auf dem sich doch gegenwärtig die wirthschaftliche Verfassung aller modernen Culturvölker aufbaut, so kann sie offenbar niemals durch einzelne noch so glückliche Attentate und Putsche in einzelnen noch so mächtigen Staaten beseitigt werden. Vielmehr handelt es sich dann um einen allgemeinen, unterschiedslosen Angriff der Besitzlosen gegen die Besitzenden, um einen Kampf also, der nur durch eine mit allen Mitteln öffentlichen Wirkens betriebene, über alle Länder und Völker sich erstreckende Agitation geführt und nur in der gewaltsamen Enteignung der besitzenden Classen, in der allgemeinen Herstellung des Gemeineigentums ende könnte.

Nach diesen Gesichtspunkten wälzten Engels und Marx den „Bund der Communisten“ allmählich um. Die geheime Verschwörergesellschaft verwandelte sich in eine einfache Organisation der communistischen Propaganda. Sie bestand überall, wo deutsche Arbeitervereine bestanden; fast in allen diese Vereinen Englands, Frankreichs, Belgiens und in sehr vielen Vereinen Deutschlands waren die leitenden Mitglieder Bundesangehörige. Daneben aber suchte der Bund zuerst den internationalen Charakter der gesammte Arbeiterbewegung scharf zu betonen; Engländer, Belgier, Polen, Ungarn marschirten in seinen Reihen; namentlich zu London hielt er internationale Arbeiterversammlungen.

Auf einem dieser Congresse wurde kurz vor der Februarrevolution von 1848 das von Engels und Marx gemeinsam verfaßte „Manifest der communistischen Partei als Bundesprogramm angenommen und in dänischer, deutscher, englischer, vlämischer, französischer und italienischer Sprache über Europa verbreitet. In diesem Actenstücke gewann der moderne Communismus zuerst Form und Gestalt. Es schloß mit dem unzweideutigen Schlachtrufe: „Die Communisten verschmähen es, ihre Absichten und Ansichten zu verheimlichen. Sie erklären offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Classen vor einer communistischen Revolution zittern! Die Proletarier habe nichts in ihr zu verlieren, als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“

Es war nothwendig, wenn auch nur in gedrängter Kürze, das wissenschaftliche System von Marx und seine eigenthümliche Ueberleitung in die praktische Agitation hier darzulegen, denn in ihm beruht der innere Schwerpunkt der modernen Socialdemokratie, deren inneres Wesen sonst unverständlich bleibt. Was seine kritische Würdigung anlangt, so muß jeder ehrliche Gegner anerkennen, daß Marx in seine umfassenden Einzelforschungen außerordentlich viel zur schärferen und tieferen Erfassung der socialwissenschaftlichen Probleme beigetragen hat; in diesem Sinne von seinen „tausendmal widerlegten Irrlehren“ zu sprechen, kann immer nur das Zeichen einer sehr großen Unwissenheit oder einer sehr unzeitigen Selbstüberhebung sein, kann nur das gute Gewissen, mit welchem trotzdem die heutige Gesellschaft den communistischen Sturmläufern sich entgegen stellen darf, in ein schlechtes Licht setzen. Wissenschaftlich überwunden ist dagegen Marx in seinen letzten Schlußfolgerungen, in der haltlosen Anmaßung, den unfehlbaren Stein der Weisen entdeckt zu haben.

In dieser Beziehung mag die Andeutung einiger Punkte genügen. Zunächst ist die Werthlehre, der Eck- und Grundstein des Systems, vollkommen hinfällig und von den klügeren Köpfen, wenigstens der deutschen Socialdemokratie, längst aufgegeben. Der Unternehmergewinn ist kein Raub an den Arbeitern, sondern der Entgelt für die Lösung der höchsten wirthschaftlichen Aufgabe: Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Gesellschaft mit der größten Kostenersparniß. Ferner ist es eine völlig unerwiesene Behauptung, daß unter der Herrschaft der freien Concurrenz das Sondereigenthum zu der schroffen Scheidung der modernen Gesellschaft in wenige unermeßlich reiche und zahllose blutarme Menschen führen müsse. Marx leitet diese Vorstellung aus der unbestreitbaren Thatsache ab, daß die Entwickelung der großen Industrie vielfach Massenelend hervorgerufen hat, aber er übersieht oder will übersehen, daß dieses Massenelend durch friedliche Reformen beseitigt werden kann und theilweise schon beseitigt worden ist. Endlich heben sich Marx der Agitator und der Theoretiker gegenseitig auf. Es ist ein Unding, das Gemeineigenthum, welches nur das Ergebniß einer langen geschichtlichen Entwicklung soll sein können. als unmittelbares Ziel einer die heftigsten Leidenschaften des Tages aufregenden Agitation hinzustellen. Denn von zwei Dingen eins: entweder ist die Theorie richtig und das Gemeineigentum vermag sich nur allmählich aus dem Sondereigenthum zu entwickeln, dann ist eine auf den gewaltsamen Umsturz der gegenwärtigen Ordnung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_112.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)