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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

No. 4.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ledige Kinder.
Erzählung aus dem oberbairischen Gebirg.
Von Herman v. Schmid.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten; Ueber-
setzung vorbehalten.


In der großen Wohnstube des Kogelhofes war es am Abend des ereignißreichen Tages wohl um Vieles traulicher und heimlicher als in der Waldhütte des Pechlers. Die Stube trug, wie das ganze Haus, das Gepräge einer alten Zeit; anderthalb Jahrhunderte mochten dahingegangen sein, seit hier keine ändernde oder bessernde Hand die Wände oder Einrichtungsgegenstände berührt hatte. Die Täfelung an der Decke und an den Wänden zeigte, daß sie aus einer Zeit stammte, in welcher die Gegend noch reicher mit Eichbäumen bestanden war; sie war ganz aus den schönsten Balken und Brettern dieses Holzes gezimmert, das durch die Länge der Zeit ein so tiefes Braun angenommen hatte, wie die größte Kunst es hervorzubringen nicht vermocht hätte. Auch die an den Wänden umlaufenden Bänke, der mächtige Tisch und die sogenannte Brücke, die hinter dem großen Kachelofen sich gemächlich in den Winkel schmiegte, waren aus demselben Holze gefügt und stimmten in Form und Farbe zu einander und zur Umgebung, als wären sie aus einem Stamm geschnitten. Die nicht großen, tief in die dicke Mauer eingelassenen Fenster waren mit kleinen runden, bleigefaßten Scheiben eingeglast, durch welche nur gedämpftes Licht eindrang, sodaß der Bewohner schon früh für nöthig befunden hatte, eine kleine Oellampe anzuzünden, deren Schein kaum die Stube ausfüllte und nur eben knapp hinreichte, überall die Umrisse erkennen zu lassen.

Die Ehehalten (Hausgesinde) hatten bereits zu Abend gegessen, das Tischgebet verrichtet und sich in ihre Kammern begeben; dennoch war der Tisch in der Ecke noch weiß gedeckt und, wie an demselben Morgen die königliche Tafel, mit zwei stattlichen Gedecken besetzt, welche der Gäste harrten. Letztere verweilten noch auf ihren Zimmern; der Verkehr mit dem alten Kogelhofer mochte ihnen nach dem stattgefundenen Gespräche nicht genug verlockend sein, um sich früher einzustellen, als das Essen aufgetragen sein würde.

Der alte Kogelhofer, der an der innern Tischecke saß, stimmte in jeder Weise zur Umgebung. Er war selbst ein Stück alter Zeit, wie über seinem Kopf der kleine Hausaltar mit dem geschnitzten, schwarz angerauchten Kreuzbild und der aus weißem Papier gefalteten Figur, die eine Taube als Sinnbild des heiligen Geistes vorstellen sollte. Hinter dem Kreuze steckte ein Büschel Kräuter, aus den Kätzchen der Palmweide, den glänzenden Zweigen der Stechpalme und den Ruthen des Sebenbaumes (Sadebaum – eine Wachholderart) gebunden und gleich dem geweihten rothen Wachsstock, der auf dem Tische qualmte, die geheime Kraft besitzend, den Blitz abzuleiten und das Haus vor dem Donnerschlag zu bewahren.

Der Alte hatte eben aus dem am Fenstersims liegenden dicken und abgegriffenen Buche „Der Himmelsschlüssel“ von Pater Kochem seine Hornzwickbrille hervorgenommen, sie auf die Nase geklemmt und den Hauskalender heruntergeholt, der ebenfalls an der Fensterwand aufgehängt war. Er blätterte darin, als die Thür aufging und Lenz eintrat, der sich ruhig auf die Ofenbank setzte, wohl in Erwartung der Dinge, die der Abend noch bringen sollte; da er den Vater beschäftigt sah, fand er es nicht gerathen, ein Gespräch anzufangen. Auch war ihm selbst nicht um ein solches zu thun; sein Wesen war sichtlich gedrückt, ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen entschiedenen Auftreten. Es war, als ob ihn etwas im Innern beschäftigte, was seine Aufmerksamkeit von äußeren Dingen ablenkte – er war nach dem Volksausdruck etwas dasig (kleinlaut) geworden.

Der Kogelhofer hatte eben die am Ende des Kalenders angehefteten Blätter aufgeschlagen, auf welchen nach altem Brauche die merkwürdigsten Ereignisse aus dem kleinen Kreislaufe des bäuerlichen Haushaltes eingetragen waren.

„Muß doch den Tag in den Kalender schreiben, wann der König auf dem Kogelhofe zu Mittag gespeist hat,“ sagte er für sich hin, indem er ein kleines Tintenglas der allereinfachsten Art und einen mächtigen langbärtigen Gänsekiel zurecht machte, welche beide bewiesen, daß sie wohl diejenigen Geräthschaften waren, die auf dem Kogelhof die wenigste Verwendung fanden.

„Wo ist denn nur gleich ein leeres Platzl?“ fuhr er für sich fort, worauf er einige der schon vorhandenen Einträge halblaut überlas. „Am 15. Mai zur Ader gelassen – am 5. Juli hat die gelbe Allgäuerin gekälbert – am 8. August den Schecken verkauft – aber was ist denn das?“ unterbrach er sich plötzlich, „da steht ja gar was, das ich gar nicht geschrieben hab', und die Tinten ist noch ganz frisch!“ Er schob die Brille zurück, um besser zu sehen und las mit immer steigendem Staunen: „5. September, als am St. Laurenzitag, ist die Nannei unter der Zeit ausgestanden und hat derentwegen ihren Lohn hinten gelassen.“

„Wie wär' mir das?“ rief der Alte aufspringend, und warf den Kalender auf den Tisch. „Ist denn der Kogelhof ein Taubenschlag 'worden, aus dem man aus- und einfliegt, wie man nur

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_057.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)