Seite:Die Gartenlaube (1880) 015.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Ich schlüpfte in den Laden, blinkte dem geschäftig herbeieilenden Ephraim vertraulich zu und stellte mich abseits, um den eintretenden Geschwistern Platz zu machen.

„Was soll sein gefällig?“ fragte Ephraim geschäftsbereit und griff nach dem Kasten mit Knöpfen und Stecknadeln. Touristen brauchen immer Stecknadeln und Knöpfe.

„Wir wollen uns die Geige einmal ansehen, die da im Schaufenster hängt,“ erwiderte die ältere der Schwestern, „und sie auch vielleicht kaufen.“

„Sie werden haben ein kleines Brüderchen, was soll lernen auf der Violine spielen,“ sagte Ephraim Hirsch, indem er den Knopfkasten wieder wegstellte. „Da können Sie haben ganz billige Sorten. Oberländer, fünf Thaler das Stück!“

„Nein, nein,“ sagte Marietta eifrig, gerade die wollen wir sehen – die da in der Ecke hängt. “

„Die wird Ihnen sein zu theuer, kleines Fräulein!“ erwiderte Ephraim väterlich abwehrend. „Wissen Sie auch, daß das ist ein Schatz? Was sag' ich, ein Schatz? Ein Verbrechen ist es vom Isodor“ – Ephraim nannte seinen Bruder stets Isodor – „daß er hat bezahlt so viel beim Einkauf für 'ne alte Geige. Die Oberländer sind viel besser. Soll ich sie Ihnen mal zeigen? Fünf Thaler das Stück, ganz neu und schön roth angestrichen! Es ist 'n Staat!“

„Komm, Marietta!“ sagte Teresa ungeduldig, „wir wollen gehen.“

„Gott, du gerechter, bleiben Sie, bleiben Sie!“ rief Ephraim bestürzt. „Was wollen Sie gehen? Ich zeig' sie Ihnen! Nein, ich zeig' sie Ihnen nicht. Der Isodor soll sie Ihnen zeigen!“

„Isodor!“ rief er durch ein Fensterchen in der Hinterhür, „Isodor, die Cremoneser!“ und sich zu uns wendend, sagte er halb ärgerlich, halb erfreut und die Geschwister immer noch mit argwöhnischer Verwunderung betrachtend. „Hätt' ich doch nicht geglaubt, daß Isodor wird gewinnen! Wie er sie hat gebracht und hat gesagt zu mir. ‚Ephraim, ich hab' se gekauft, und der Mann kommt sich holen bei Dir das Geld heut Nachmittag – se kost' 150 Thaler!‘ Nein, warten Sie mal, ich irr' mer, se hat gekost 250 Thaler – was sag ich? Ich glaub', 350 Thaler hat se gekost!“ verbesserte er sich rasch – „da hab' ich gesagt: ‚Isodor, was biste ä Schaute! Wer soll se kaufen? Wo steckt der Werth? Du bist unpraktisch für's Geschäft. Du hast Der lassen betuppen!‘ Da hat er sich verschworen hoch und theuer, nor ä Künstler wie er könnt's beurtheilen. Und wie ich hab' nochmal gesagt. ‚'s wird Keiner darnach fragen. Wer soll se kaufen?‘ da hat er mit mir gewett' um fünf Thaler, daß er wird se verkaufen in korzer Zeit. Wenn Sie se kaufen, hat der Isodor gewonnen. Soll ich Ihnen nich' mal zeigen die Oberländer?“

Der inzwischen eingetretene Isidor hatte die Situation im Augenblick erfaßt; er schob seinen geschwätzigen Bruder bei Seite, nickte mir vorübergehend zu und machte den Schwestern gravitätisch einen steifen Bückling. Sein Augenblick war gekommen.

„Sie wollen sehen das Cabinetstück?“ fragte er, und ohne eine Antwort abzuwarten, wendete er sich in sichtlicher Aufregung dem Schaufenster zu.

„Sie ist theuer, sehr theuer, aber hören Sie mal den Ton!“ sagte er, die Geige stimmend, und begann den Bogen aus den einzelnen Saiten lang auszuziehen. „Klingt sie nicht wie 'ne Orgel?“

Isidor war jetzt vollständig Künstler. In stillen Augenblicken hatte es ihm wohl immer leid gethan, daß er der Kunst den Rücken gewendet hatte, und wenn er auch hin und wieder geigte, ja manchmal sogar stundenlang – was gab das ihm für eine Genugthuung? Es fehlte ihm das Publicum. Aber jetzt? Die kühnsten und gewagtesten Evolutionen waren ihm reines Kinderspiel. Eine Cadenz reihte sich an die andere, eine immer wilder, freilich auch unordentlicher, als die vorhergehende, und als er mit dieser Introduction zu Ende war, folgte eine wahre Fluth von alten und neuen Opernmelodien, bis endlich das damals noch neue, rasend gespielte Meyerbeer'sche „Ja, das Gold ist nur Chimäre“ seine Parforceleistung beschloß. Mit einer beifalldurstigen Geberde legte er die Geige aus der Hand.

Armer Isidor! Das Publicum blieb still. Bei dem handwerksmäßigen Streichen und den halbverunglückten Passagen aber hatte Teresa fein gelächelt und Marietta laut aufgelacht, was Isidor freilich beides als Beifallsäußerungen aufgenommen hatte.

„Ich habe mir kein Urtheil über die Güte des Tones bilden können,“ sagte Teresa. „Willst Du das Instrument nicht einmal probiren, Marietta? Ich kann dann den Ton viel besser taxiren.“

„Wie? Was?“ fragte Ephraim verwundert. „Sie machen Spaß! Das kleine Fräulein kann auch schon spielen Violine?“

„O ja,“ erwiderte Teresa lächelnd, „wir spielen Beide ein wenig.“

„Das ist recht!“ sagte Isidor, indem er mit freundlich aufmunterndem Nicken die Geige dem Engelsköpfchen überreichte. „Geniren Sie sich nicht und spielen Sie mal ein Stückchen!“

Marietta nahm schweigend das Instrument, stellte sich in einiger Entfernung auf und begann ebenfalls mit langgezogenen Tönen auf den leeren Saiten.

„Die Bogenführung ist ausgezeichnet!“ sagte Isidor. „Sie werden gut spielen lernen, denn die Anfangsgründe haben Sie gut begr –“

Da – was war das? Unserm Isidor blieb vor Erstaunen das Wort in der Kehle stecken.

Mit der Schnelligkeit des Blitzes flog eine Reihe von glockenhellen Tönen in chromatischer Folge staccato bis in die Regionen der fünften Lage hinauf und endigte in einem brillanten minutenlangen Triller, der, erst anschwellend, dem Schlage der Nachtigall glich und endlich allmählich abnahm, um in einem elfenhaft zarten Flageolett-Tone zu verklingen.

Isidor stand mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde da.

„Die hohe Partie ist excellent, Marietta,“ rief Teresa freudig. „Aber wie steht's mit der Cantilene in der Mittellage?“

Marietta hob den Bogen auf's Neue, und eine unendlich schwermütige Gondoliera erklang in sehnsüchtig und wehmütig klagenden Tönen von den Saiten der alten Geige.

Ich lehnte mich an die Wand, schloß die Augen, um ungestörter zu hören, und vergaß Zeit, Ort und Umgebung. Paganini hatte ich verschiedene Male gehört. Ich war durch ihn in unendliches Staunen versetzt worden; seine Kunst hatte mich geblendet, aber Marietta hatte mich gerührt, erschüttert. Die Augen waren mir vor innerer Bewegung feucht geworden.

Sie setzte nach einem langen pianissimo den Bogen ab, ich glaubte den zarten Ton noch immer zu hören, als sie längst geendigt hatte.

Ephraim und Isidor Hirsch waren Bildsäulen.

„Auch die Cantilene ist gut,“ sagte die unerschütterliche junge Dame. „Aber nun handelt es sich um die Kraft, um die Stärke und Intensität des Tones. Da werde ich Dir wohl zu Hülfe kommen müssen, Herzchen!“

Sie ergriff die Geige, und was Isidor vorhin beansprucht hatte: „Klingt sie nicht wie eine Orgel?“ das wurde jetzt Wahrheit. Nicht in einzelnen Tönen, nein, in vollen Accorden flohen die Klänge von den Saiten. Nicht süßer Wohllaut war es, den der Bogen ihnen entlockte – wilder, viel wilder, als Isidor nur je geahnt hatte, entströmte der Ton dem tyrannisirten Instrumente. Es war wie die Einleitung zu einem Gewitter, und, wie von Furien gepeitscht, in gigantischen Machttönen gaben darauf die Saiten Josef Panny's „Sturm“, Paganini's berühmtes Concertstück, wieder.

Ich war überwältigt.

Teresa legte die Geige aus den Händen.

„Das Instrument ist gut, sehr gut,“ sagte sie, „und einen bedeutenderen Preis werth, als Sie vorhin nannten. Der Ton ist ungemein lieblich, wie bei allen Guarneri-Geigen, aber er besitzt nicht das Großartige, das die Stradivari, und unter ihnen besonders der große Antonio, dem Tone ihrer Instrumente zu verleihen verstanden haben. Ich suche eben eine Geige ersten Ranges, und darauf kann diese bei vielen Vorzügen doch nicht Anspruch machen.“

Die Schwestern machten Anstalt, sich zu entfernen.

„Nicht wahr, die Oberländer?“ fragte Ephraim sich nähernd. Isidor kam jetzt wieder zu sich. Er schob seinen Bruder bei Seite. „Fräulein,“ begann er, „was soll ich sagen?“ Jetzt erst sehe ich ein, wie es war recht gehandelt von mir, als ich hab' vertauscht die Kunst mit dem Geschäft, und brauch' mir in meinem Herzen keine Vorwürfe mehr darüber zu machen. Wenn ich jetzt noch einmal anrühr' eine Geige, dann will ich sie blos

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_015.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)