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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Und sie legte ihren Arm in den meinen, sehr sanft, sehr zart, und doch war mir, als ergriffe mich ein heißer Sturm. Ich wünschte, es möchte ein Wunder geschehen, das Wäldchen möchte sich plötzlich in ein wildes Thal im Kaukasus verwandeln oder in eine Oase der Sahara.

„Gehen wir schnell! Ich liebe das,“ sagte sie, „und erzählen Sie mir von Ihrer Braut!“

„Verzeihung – ich kann es nicht.“

„Ist sie schön?“

Da sagte ich bitter:

„Wie könnte ich eine schöne Braut haben?!“

„Warum nicht?“

„Schöne Frau, es hat einmal Einer gesagt, ich hätte ein Gesicht wie ein unglücklicher Affe.“

„Und Sie glauben, was oberflächliche Menschen sagen? Ihr Gesicht ist unbeschreiblich interessant; es hat eine magische Anziehungskraft – eine fesselnde Gewalt. Wenn Sie zugegen sind, muß ich stets nach Ihnen sehen, und wenn Sie abwesend sind –“

Es wurde mir schwül – leise fragte ich: „Und wenn ich abwesend bin?“

„Dann sehe ich nur Sie.“

Da stand ich stille und legte meine Hand auf die ihre: „Suhra, wissen Sie, was Sie sagen?“

„Ja.“

„Suhra!“ rief ich mit verhaltener Gluth. „Hier will ich Ihnen nicht ein Bekenntniß thun, das nicht weiter hallen soll, als in Ihr Herz. Aber ich kann jetzt auch von nichts Anderem mit Ihnen sprechen. Erlauben Sie, daß ich Sie zu Ihrem Wagen bringe. Heute Abend werde ich kommen. Haben Sie schon eine Wüste gesehen? Eine Wüste, über welcher die Feuergenien langsam den Sonnenball dahinrollen und wo die Sonnenstrahlen in den Boden hineinwachsen? Eine Wüste, die ungeheure Träume und glühende Stürme hat? Eine solche Wüste bin ich, Suhra. Seien Sie groß und gütig gegen mich!“

Sie blickte vor sich nieder und sagte leise: „In der Wüste will ich wohnen.“

Dann geleitete ich sie stumm zu ihrem Wagen; als er davon gerollt war, ging ich zur Stadt zurück, Wonne und Ungeduld in der überraschten, überwältigten Seele.

(Schluß folgt.)




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.

Von C. Michael.
8. Die Poesie im Hauskleid.

Ein altes wahres Wort sagt: „Es giebt der Dichter gar viele, die niemals einen Vers geschrieben haben.“ – Ja, es giebt dieser unbewußten „Dichter“ gar viele in jedem Lebenskreise; sie reimen nicht, aber sie drücken den Stempel ihres „Dichterthums“ ihrer ganzen Umgebung auf. Das Leben wird anders aufgefaßt, Freud’ und Leid wird ganz anders getragen in einem Hause, wo, nach den Worten Anastasius Grün’s, noch:

„Wallt auf Erden
Die Göttin Poesie“

und wo:

„Mit ihr wandelt fröhlich[WS 1],
Wem sie die Weihe lieh. –“

Trittst du in ein fremdes Haus, so wirst du es schon in der ersten Stunde empfinden, beim ersten Willkommen hören, beim ersten Blicke sehen, ob in diesen Räumen „Einer“ wandelt, dem die Göttin „die Weihe lieh“. – Nicht gleich aber wirst du zu erkennen vermögen, welcher der Hausbewohner der Gottbegnadete ist; dazu bedarf es schon längeren Studiums. Vielleicht ist es der Vater, trotz seines grauen Strubelkopfes und der spießbürgerlichen „Pfeife“, die er raucht; oder es ist die Mutter, die einzig von kleinen Kindern und häuslichen Angelegenheiten zu sprechen weiß – laß dich dadurch nicht irre machen – sie kann es dennoch sein! Ist’s aber keines von den Eltern, dann ist es vielleicht jener Knabe mit den tiefen, glänzenden Augensternen, oder das halb schon zur Jungfrau erblühte Mädchen dort, die unter deinen Blicken die Augen schnell auf die feine Handarbeit senkt – ja, sogar die alte Magd, die dir soeben den Imbiß credenzt, kann jene still verborgene Dichternatur sein, die du im Hause ahnest, aber vergeblich heraus zu finden strebst.

Beim Fortgehen wirfst du vielleicht zufällig einen Blick durch die offen stehende Thür in die Kammer der Magd und bemerkst, wie das Fenster dicht umrahmt ist von wohlgepflegtem Epheu; auf dem Sims steht ein mächtiger Strauß Feldblumen – die „alte Marie“ hat ihn vom letzten Sonntagsausgang mit heim gebracht. Eine schneeweiße Decke ist über den kleinen Tisch am Fenster gebreitet. An der Wand darüber hängt eine alte, verblichene Photographie; ob sie des Mädchens Vater, Bruder, oder den ungetreuen Liebsten vorstellt – gleichviel, der zarte, wunderniedliche Kranz von rothen Steinnelken und blauen Vergißmeinnicht, der das Bild umrahmt, die sorgfältig gehaltenen alten Bücher auf der Commode, die gepreßten Blumen in der aufgeschlagenen Bibel, all das ist – Poesie!

Die alte Magd mit der spiegelblanken breiten Leinwandschürze und dem glattgescheitelten grauen Haar, die seit zwanzig Jahren in gleich stiller Emsigkeit dem Hause dient, ist seine gute Fee; sie ist eine von jenen Dichterinnen, die nie einen Vers geschrieben, ja kaum jemals einen gelesen haben, und doch stammt von ihr die poetische Weihe des Hauses – verlaß dich darauf! –

Auch von außen, von fern her kann jener süße, heilige Zauber der Poesie wirken. Der Sohn, der nur einmal des Jahres „in die Ferien“ kommt, kann binnen dieser sechs Wochen das Elternhaus für’s ganze Jahr mit solchem Zauber weihen; eine ferne Mutter oder Schwester kann es durch ihre Briefe thun, ein lieber Freund durch häufigen Verkehr im Hause. Wo du höhern Gedankenschwung triffst, und ideale Auffassung des Lebens, da forsche nur nach – ein Jünger der Poesie wird nicht fern sein.

Schon oft habe ich darüber nachgesonnen, was Poesie denn eigentlich sei, und konnte keine genügende Definition dafür finden. Ich möchte sagen: „Die Poesie liegt nicht in den Dingen selber, sondern in der Art, wie wir sie ansehen.“ Sowie nach jenem schönen Spruche „dem Reinen Alles rein“, ist dem wahren, echten Poeten Alles poetisch. Er denkt in Bildern und sieht nur lauter abgeschlossene einzelne „Bilder“ um sich her. Was nun in eines dieser Gemälde nicht passen will, das sucht er aus dem Rahmen zu entfernen, oder er rückt den unliebsamen Gegenstand möglichst in den Schatten, bis er sich sein „Bild“ nach seiner Weise zurechtgelegt hat, dann erst beschaut er es befriedigt. Man möchte behaupten: der Poet hat einen Sinn mehr als die übrigen Menschen, und dieser sechste Sinn wird ebenso empfindlich beleidigt durch die Formlosigkeiten des Lebens, wie das Gehör durch einen Mißton, das Auge durch häßliche Farbenzusammenstellung oder der Geschmack durch bittere Speisen. Es ist also nur reiner Egoismus, wenn der Poet mit ängstlicher Hast die Widersprüche des Lebens zu versöhnen, dessen Disharmonien umzustimmen trachtet, wenn er nicht ruht und rastet, bis er auch dem Allergewöhnlichsten eine poetische Seite abgewonnen hat, um es ohne Schmerz oder Widerwillen betrachten zu können. Ist der Poet ein Mann des Wortes, so wird er dieses Streben in dichterischen Schöpfungen verkörpern. Für viele Andere bietet die Umgebung des täglichen Lebens das Material, um sich zu äußern.

Selbstverständlich findet man die meisten für Poesie begeisterten Menschen in den höheren Lebenskreisen, wo der Geist schon früh mit den besten Producten unserer Dichter und Schriftsteller bekannt gemacht, wo feines Gefühl sorgfältig gepflegt und der Mensch zu höheren Zwecken herangebildet und erzogen wird. Da bedarf es nur einer geringen natürlichen Anlage, um diese herrliche Gottesgabe, diesen „sechsten Sinn“ auszubilden. Wir finden ferner die meiste Poesie auch selbstredend im Jugendalter, in den Jahren des Drängens und Stürmens, in der Periode der Ideale und der ersten Liebesregungen. Wer bei guter Erziehung, im Alter von sechszehn bis vierundzwanzig Jahren keinen Vers geschrieben oder für keinen Dichter „geschwärmt“ hat, muß schon fast beschränkten Geistes genannt werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fröhlich; im zitierten Gedicht „Der letzte Dichter“ von Anastasius Grün lautet es jubelnd.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 856. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_856.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)