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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Und dem Befehle gehorchend, mechanisch, Silbe für Silbe, las Walter erst seinen Namen und dann langsam, als traue er noch immer seinen Augen nicht, „Lucia de Saintpré“.

„Lucia! – Sie!“ stammelte er und das Blatt entsank seiner Hand. Was er bei der unerwarteten Entdeckung empfand, konnte nicht mehr Seligkeit heißen; es war zu jäh, zu erdrückend; es steigerte sich zum seelischen und physischen Schmerz, und er war nahe daran, wie vernichtet auf einen Stuhl zu sinken. Allein bei dem Anblick seiner jungen Frau, die sich zitternd und todtenblaß an ihre Schwester klammerte, besann er sich rasch eines Besseren; er trat vor, öffnete die Arme und die längst Anvermählte, Verlorene und so unerwartet Wiedergefundene lag weinend an seiner Brust.

„Und werden Sie es nie bereuen?“ flüsterte sie, als sie endlich Worte fand und noch unter Thränen zu ihm aufblickte.

Er antwortete nicht, wenigstens nicht mit Worten. Er küßte die blassen bebenden Lippen, die unter der Berührung wieder Leben und Wärme bekamen, und nun erst löste sich allmählich der Krampf der Freude in seiner Brust zu einer Empfindung reinen, höchsten Glückes auf.

„Und ich werde den Priester vorstellen,“ sagte die Baronin halb scherzend und halb gerührt, indem sie die Hände des endlich vereinigten Paares in einander legte, „ich weihe Euch hiermit zu einem langen Leben voll Liebe, Frieden und Einigkeit.“

„Und von ganzem Herzen gebe ich meinen Segen dazu!“ sagte eine Stimme von der Thür her.

Alle wendeten sich erschrocken dahin; es war der Baron, welcher, nachdem er die laute jubelnde Freude seiner Frau entgegen genommen, auf den neuen Schwager zueilte und ihm warm die Hand schüttelte.

„Sie glauben nicht, wie herzlich es mich freut, daß diese vertrackte Geschichte noch ein so gutes Ende genommen hat!“ sagte er. „Begreiflicher Weise schien es uns zunächst mehr als zweifelhaft, daß die Wahl jenes ehrenwerthen schwarzen Vetters gerade auf den einzigen anständigen Menschen gefallen sein sollte, welcher sich zufällig damals in den amerikanischen Urwäldern herumtrieb. Darüber waren wir freilich bald beruhigt; ich habe gründlich Nachrichten über Sie eingeholt, war sogar ein paar Mal persönlich in Ihrer Universitätsstadt – und was ich mitbrachte, gereichte meiner kleinen Schwägerin zur großen Genugthuung,“ setzte er mit einem neckischen Seitenblick auf die Erröthende hinzu, „der man nie genug von ihrem Mann erzählen konnte, wie gleichgültig sie sich auch zu stellen suchte. Und trotzdem – welche Sorge hat sie uns noch gemacht im Hinblick auf eine volle Ausgleichung der Verwirrung! Kaum daß wir sie bewegen konnten, mit hierher zu gehen, nachdem wir erfahren hatten, daß Sie gleichfalls das Bad zur Cur aufsuchen würden – denn irgendwo auf neutralem Boden mußten wir die feindlichen Kräfte doch zusammenbringen!“

„Aber wie in aller Welt haben Sie ausgekundschaftet, wer der verlassene Gatte war?“ fragte der Professor.

„Sie vergessen, daß wir den Contract mit Ihrer Namensunterschrift in Händen hatten. Und was da noch an offenen Fragen übrig blieb, beantworteten unsere Nachforschungen in England. Ja, ja – Sie wollten Lucia’s Spur finden, indeß ich in deren Interesse auf der Ihrigen war.“

„Sie waren damals in England?“

„Lucia hatte uns noch am Abend ihrer Landung telegraphisch über Ankunft und Ursache ihrer Reise benachrichtigt, allerdings ohne ihrer Verheirathung zu gedenken. Sie können sich unseren Schrecken bei Empfang des Telegramms vorstellen. Natürlich reisten wir sofort nach London ab. Dann kam der zweite Schrecken, als das arme erschöpfte Kind ihrer Schwester wie todt in die Arme sank, und dann ein dritter, als wir erfuhren, daß und unter welchen Umständen sie die Frau eines fremden Mannes geworden. Wir hatten ein förmliches Ballspielen von einer unangenehmen Empfindung zur anderen auszuhalten. Uebrigens logirten wir bei Verwandten, welche unserer dortigen Gesandtschaft zugehören; das hat die Damen, während ich Ihnen nachforschte, vor der von Ihnen in Anspruch genommenen Polizei gesichert.“

„Der Schiffsarzt hat telegraphirt, daß Du es nur weißt,“ fügte Lucia lächelnd hinzu. „Ich hatte ihn zuletzt in mein Vertrauen gezogen, und er war es auch, der mich zu meiner Schwester brachte.“

„Ei der Tausend!“ rief Walter in komischem Zorn, „ich hätte dem dicken Kerl die Perfidie gar nicht zugetraut. Vier Jahre Glück aus einem kurzen Menschenleben gestohlen – ich weiß nicht, ob ich es ihm jemals verzeihen kann.“

„Er hielt eine zeitweilige Trennung für durchaus geboten,“ entschuldigte der Baron. „Daß vier Jahre daraus geworden sind – nun daran trägt, wie gesagt, meine liebe Schwägerin die Schuld. Das unvernünftige Mädchen war die Zeit her nicht zu bewegen, auch nur den kleinsten Schritt zu einer Annäherung zu thun, und von der Auflösung ihrer Ehe wollte sie auch wieder nichts hören. Ihr Herzchen war eben doch von Anfang an gefangen,“ schloß er mit einem lächelnden Blick auf seine erröthende Schwägerin.

„Und ist es mir denn anders gegangen?“ sagte Walter, indem er mit einer ihrer langen dunklen Locken spielte.

„Ja,“ erwiderte Lucia, und ihr Gesicht glühte in holder Verschämtheit auf, „dieses törichte Herz hat für Dich gesprochen – früher, als Du glaubst, Geliebter – schon eine geraume Zeit, bevor Melazzo seinem Schicksal nachhalf.“

„Aber wie ist das möglich?“ fragte Walter erstaunt. „Hast Du mich denn vor der Trauung überhaupt gesehen?“

Ein Schatten flog über ihre Augen. „Da muß ich Dir wohl mein ganzes Schicksal erzählen, ehe ich eine Dir verständliche Antwort geben kann.“

„Nicht doch – ich weiß mehr davon, als Du glaubst – und zwar aus authentischster Quelle, nämlich von Melazzo selber.“

„Ach!“ sagte sie. „Nun, es war kurz nachher, als der Schreckliche mich zur Gattin verlangte und mir in meiner Hülflosigkeit und Verzweiflung nichts übrig blieb, als der feste Entschluß, in dem Augenblick, da ich keine Rettung vor diesem Schicksal sehen würde, mein Leben zu endigen. Ich sprach das aus, und ich muß es wohl in einer Weise gethan haben, daß es Eindruck machte und daß er seine Absicht aufgab. Wenigstens ließ er mich in Ruhe. Bald danach hieltest Du Dich einige Tage an dem Orte auf, wo wir uns eben befanden. Du streiftest öfter um unsere Hütte herum, und hinter dem Gitter unserer Fenster konnten wir Dich ganz gut beobachten, Du aber warst immer in Deine Gedanken vertieft und sahest gar nicht nach uns hin. Wir hörten auch durch unsere Wächter Manches von Dir. Einen derselben hattest Du vor längerer Zeit einmal verbunden, als Du ihn zufällig mit schwer verletztem Beine im Walde gefunden. Aber auch der Neger, der bei Dir war, hatte unseren Leuten gerühmt, wie gut Du seiest und wie bereit, Jedem zu helfen, so gar nicht, wie die Weißen in der Gegend. Einst hattest Du Dich nicht sehr weit von uns niedergesetzt, um Deine Pflanzen zu ordnen. Wir konnten deutlich erkennen, wie müde und erschöpft Du warest, und doch zeigtest Du Dich so ruhig, fleißig und gewissenhaft aufmerksam bei Deiner stillen Beschäftigung, als hättest Du vorher nicht die geringste Beschwerde gehabt. Es war mir ein förmliches Labsal, auf Dich zu blicken und zu denken, welch ein Segen solch ein friedlicher Beruf sein müsse, der Niemandem schade, sondern Gutes schaffe rund umher und der selbst in einer so wilden Einsamkeit solchen Genuß gewähre. Ich faßte auch gleich ein rechtes Vertrauen zu Dir und war überzeugt, stände es irgend in Deiner Macht, so würdest Du uns helfen.

Dann waren ein paar Wochen vergangen – da kam Melazzo eines Tages wieder zu uns. Er wolle mich los sein, sagte er; ich sei für ihn eine Last und eine beständige Gefahr. Nun treibe sich gerade ein deutscher Doctor in den Wäldern herum; er werde ihn leicht in seine Gewalt bringen, werde mich mit ihm verheirathen und uns zusammen nach Europa schicken. Ich drückte die Hände vor das Gesicht und wandte mich ab, indem ich meinem Peiniger erklärte, daß mir Alles recht sei, wenn ich nur für immer von ihm befreit würde.

Aber als er dann fort war, wollte ich schier verzweifeln. So kindisch ich auch war, ich hatte doch schon im Kloster gelernt, daß die Ehe heilig sei, und mir bangte entsetzlich davor. Doch Annita bestürmte mich fort und fort, und ich war auch so krank. Ich dachte, ich würde gewiß bald sterben und dann sei Alles vorbei – und nur ein Grab in Europa zu haben, schien mir schon eine unaussprechliche Wohlthat.

Bei der Trauung war ich mehr todt als lebendig. Ich war überzeugt, Du könntest mir den Zwang, den man Dir anthat, niemals verzeihen und müßtest mich ewig hassen. Auf dem Schiffe wagte ich nicht, Dir unter die Augen zu treten, und je mehr Güte Du mir erwiesest, um so mehr schämte ich mich. Da

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