Seite:Die Gartenlaube (1879) 793.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

No. 48. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig• – In Heften à 50 Pfennig.


Verheirathet.
Novelle von H. Wild.
(Fortsetzung.)


Der Arzt hatte die Seebäder von H. als besonders zweckdienlich empfohlen. Urlaub stand dem Professor zur Verfügung, und so nahm er denn Abschied und reiste zur Cur nach H.

„Wenn Du nur,“ klagte seine Mutter, als sie ihn weinend aus ihrer letzten Umarmung ließ, „wenn Du Dir nur eine recht gute Frau aus dem Meere fischen könntest!“

„Die Bibliothek kann er nicht mitnehmen, das Studirzimmer auch nicht – das ist immerhin etwas“ tröstete sie der Arzt.

Die Wandlung that Wunder. Schon der Kraftaufwand, den Walter die Ausführung seines Entschlusses gekostet, hatte ihm wohlgethan, und nun der Wechsel der Eindrücke, die frische, belebende Strömung menschlichen Wirkens und Schaffens, die von allen Seiten bei der unterbrochenen Veränderung des Ortes unaufhaltsam auf ihn eindrang! Ihm war, als erwache er aus einem schweren Traum. Himmel, Erde, Luft, zuletzt Meer und nebenher sein eigenes Selbst erschienen ihm auf einmal in einem neuen, goldenen Licht, und der verdrossene, abgestorbene Melancholiker war, als er erst ein paar Wochen in H. verweilt hatte, wieder ein lebendiger, liebenswürdiger und – für den Augenblick wenigstens – sogar ein glücklicher Mensch geworden.

Wie viel Antheil die Baronin Stoerbeck und ihre anmuthige verwittwete Schwester, zwei durch Distinguirtheit ihres Wesens unter den Badegästen ausgezeichnete Damen, an dieser Umwandlung hatten, das hätte der gelehrte Professor kaum zu sagen vermocht.

Er verkehrte täglich mit den Damen. Sie wohnten mit ihm in demselben Hôtel, in dem sie nur wenige Tage nach ihm eingekehrt waren. Die leichte, anmuthige, immer belebende, wenn auch mitunter ein wenig neckisch-boshafte Unterhaltung der schönen Baronin hatte ihn ungemein angezogen, vom ersten Tage ab, da die Table d’hôte ihn mit den Damen zusammengeführt. Die Baronin war dem Gelehrten, dessen wissenschaftliche Bedeutung sie genau zu kennen schien, mit einer ihn anfangs frappirenden Freundlichkeit entgegengekommen, die fast an Herzlichkeit grenzte und die um so schmeichelhafter für ihn war, als die Baronin, da ihr Gemahl sie nicht hatte begleiten können, sonst so viel wie möglich das Anknüpfen neuer Bekanntschaften mied; hatten sich ihm doch sehr bald sogar die elegant ausgestatteten Räume geöffnet, welche die beiden Damen bewohnten.

In diesem erquickenden Umgang vergingen ihm die Stunden wie Minuten; der Bücherstaub flog ab von der Welt seines Wissens, und wenn er von seinen Reisen und Erlebnissen erzählte, zogen die fernen Gegenden wie sichtbar an dem Geist seiner Zuhörerinnen vorüber und die Blumen, die er beschrieb, blühten und dufteten für sie gleichsam so frisch, wie draußen, wo er sie gefunden.

Daß die Baronin sich sehr gern mit dem Professor unterhielt, konnte keinem Zweifel unterliegen. Viel schwerer schien es, ihrer Schwester geistig näher zu kommen. Die junge Dame war ziemlich schüchtern und hatte dabei etwas so mädchenhaft Keusches und Liebliches in ihrem ganzen Wesen, daß Niemand, dem man es nicht ausdrücklich gesagt, sie für eine Wittwe gehalten haben würde. Sie hatte, wie man wissen wollte, dem geliebten Todten unwandelbare Treue gelobt und bereits mehrere vollkommen passende Anträge zurückgewiesen; der Wunsch, ähnlichen Versuchungen nach Möglichkeit auszuweichen, war – so behauptete man – der Hauptgrund der strengen Zurückgezogenheit, in welcher sie lebte. Im Uebrigen waren diese Zurückgezogenheit sowie die Farbe der Trauer in ihrer Kleidung und die tiefe Schwermuth, welche die anmuthigen Züge überschattete, die einzigen Spuren welche jene herbe Erfahrung ihr hinterlassen, und der Gram hatte ebenso wenig die holde Frische ihrer Jugend, wie ihre kurze Ehe den Reiz süßer verschleierter Jungfräulichkeit von ihrer Erscheinung abzustreifen vermocht.

Dem Professor war sie durch dies Alles ein beständiges liebliches Räthsel, in dessen Lösung er sich, ohne es zu bemerken, immer mehr vertiefte. Eine nie empfundene Ruhe, eine unbeschreiblich harmonische Befriedigung überkam ihn in ihrer Nähe; es war, als habe er lange, unter mühsamer Anstrengung, den Schlußaccord einer bekannten Melodie gesucht und nun auf einmal mühelos, unerwartet gefunden.

Ihre Augen waren wunderbar groß, dunkel und sanft, und der gelehrte Professor blickte so gern hinein; sie hingen so gespannt an seinen Lippen, wenn er sprach – kam die Anregung zu der bezaubernden Unterhaltungsgabe, die er so plötzlich entwickelte, ihm vielleicht gar aus der leuchtenden Tiefe dieser schönen Augen? Diese Augen, sie erinnerten ihn an diejenigen seiner Frau, obgleich er sie doch kaum gesehen. Und es waren nicht die Augen allein; das ganze Wesen der jungen Wittwe rief die Entflohene in seine Erinnerung zurück, so wenig die in blühender Gesundheit prangende Gestalt vor ihm an das zarte Geschöpf mahnte, das Melazzo’s Hand seiner ehelichen Fürsorge aufgezwungen hatte. War es, daß die Erscheinung der reizenden Wittwe ihn wirklich tiefer interessirte und daß ihm darum das Hemmniß in seinem Wege wieder deutlicher in’s Bewußtsein kam? Oder geschah das, weil die wehmüthige Vorstellung, daß all dieses süße, knospende

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 793. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_793.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)