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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

das früher nur allzu begründete Mißtrauen gegen die „Gaukler und Feuerfresser“ allgemach beseitigten. Noch günstiger sind meistens die Engagements im Circus, der oft Jahre lang ein und dieselbe Künstlertruppe mit sich führt.

Damit wäre ungefähr das Repertoire des Tingeltangel erschöpft. Das Ergebniß unserer Zusammenstellung ist, daß neben einer Anzahl anständiger, in ihrer Thätigkeit berechtigter Elemente als Priester und Priesterinnen der zehnten Muse andere auftreten, welche die Aeußerungsmittel wahrer Kunst im Dienste des gemeinsten Sinnenkitzels mißbrauchen. So wenig man ein Recht hat, die Leistungen der ersten Kategorie zu unterdrücken und sie dem Publicum, welches danach verlangt, vorzuenthalten, so zweifellos hat die öffentliche Sittlichkeit, die polizeiliche mit Hülfe der Gesetzgebung, wie die durch das Publicum repräsentirte, die Pflicht, dem Skandal, der sich mit diesen anständigen Leistungen verbündet, ein Ende zu machen.

Das Bündniß ist übrigens so wenig neu, wie es die verschiedenen Elemente des Tingeltangel sind. Die „fahrenden Leute“ des Mittelalters, welche so lange unehrlich waren, vereinigten eben diese Elemente. Das „fahrende Fräulein“ war in jener Zeit nicht mehr werth, als die weibliche Halbwelt des Tingeltangel. Nur daß dieser die allmählich durch Jahrhunderte in Auflösung gerathenen Elemente wieder wie in einem Brennpunkte sammelt und zugleich zum ersten Male den kecken Versuch darstellt, sie sozusagen gesellschaftsfähig zu machen.

Die Bezeichnung „Tingeltangel“ ist eine gar curiose. In Frankreich heißen diese Etablissements „cafés-concerts“, in England „music hall“; von dorther kann also der Name nicht importirt sein. Wir halten das Wort „Tingeltangel“ für ein onomatopoietisches, das heißt für ein klangnachahmendes, das den in ihm enthaltenen Begriff lautlich darzustellen sucht und höchst wahrscheinlich dem Refrain eines älteren dänischen Liedes entnommen ist, welches man in den Hafenstädten Scandinaviens und Norddeutschlands schon vor zwei Jahrzehnten sang. Dort, in jenen üppigen Häfen der Nordmarken, dürften übrigens die ersten Anfänge des deutschen Tingeltangel zu suchen sein, speciell auf dem berühmten „Hamburger Berg“, wo ich schon in dem Anfang der fünfziger Jahre den ersten flüchtigen Einblick in diese „Concerts“ gewann. Den feineren Schliff und die höhere Ausbildung gaben ihnen dann zweifelsohne später die französischen Vorbilder, deren Namen sogar jetzt fast in allen größeren Städten der alten wie der neuen Welt für derlei Etablissements ausgeborgt zu sein scheinen. Die „Alcazars“ finden wir auf russischen wie auf amerikanischen Tingeltangel-Anzeigen. Allerhand Kurzweil wurde durch Sang und Klang wie durch Tanz in den größeren Schänken Londons, Stockholms, Kopenhagens und Antwerpens von altersher dem müßigen Schiffsvolk geboten, und schon die fahrenden Leute des vorigen Jahrhunderts fanden in diesen Etablissements für ihr Handwerk einen goldenen Boden. Daß es dabei nicht immer ganz ehrbar zugegangen, wird von verschiedenen Chronisten berichtet und durch manchen Polizei-Erlaß aus jener Zeit bestätigt. Die gymnastischen Künstler producirten sich übrigens in den Trinkstuben nicht.

Die größten und elegantesten Tempel der Muse Nicotina in Deutschland finden sich in Berlin, Wien und Hamburg, doch haben jetzt leider auch die Mittelstädte schon solche Etablissements, und diese werden dort dem Theater natürlich um so gefährlicher, sodaß manche Bühne niedrigeren Ranges den „Specialitäten“ des Tingeltangel ihre Thore öffnen mußte. Leider greift dieses Unwesen auch auf den Bühnen der Residenzstädte in letzter Zeit um sich, sicherlich eine der traurigsten Folgen der verderblichen Concessionsfreiheit dieser Institute. Eine nicht minder traurige ist, daß die Tingeltangel dem Theater durch ihre höheren Gagen-Angebote manche gute Kraft entziehen, zumal Soubretten und Komiker. Einige Tingeltangel geben sogar ganze Komödien und haben dafür ein completes ständiges Schauspiel-Personal. Sie bilden im Programm nur das Füllsel, und das Publicum wird durch diese Herabwürdigung unwillkürlich gegen die Leistungen der Schauspielkunst gleichgültiger. Die unheilvollsten Nachwirkungen in der Geschmacksverirrung sind unausbleibliche Folgen der unglückseligen Vereinigung so total widerstrebender Kunstleistungen in ein und demselben Rahmen.

Wenn der Spesen-Etat eines Etablissements einen Gradmesser für dessen Rentabilität abgeben darf, so können wir von ihm bei den meisten größeren Concertlocalen der zehnten Muse auf einen großen Gewinnüberschuß schließen. Der Gagen-Etat soll für das Künstlerpersonal allein in einzelnen dieser Locale in Wien und Berlin über zehntausend Mark pro Monat auswerfen, und die großen Räumlichkeiten gestatten selbst bei anscheinend billigem Entrée vollauf die Deckung dieser Unkosten. Der geschäftliche Verkehr wird durch eigene Agenturen vermittelt, die selbst außerhalb Europas ihre Verbindungen haben und nicht selten direct aus Amerika, Japan oder China eine neue „Specialité“ einführen. Selbst für die geringeren Fächer sind die Gagen ungleich höher als bei dem Theater; eine Soubrette, die wegen absoluten Talentmangels auch bei kleineren Bühnen kaum ein Engagement erhalten könnte, bezieht als „Chansonette“ eine Monatsgage von dreihundert Mark und darüber, wenn sie nur über die „äußeren Requisiten“ verfügt, deren das pikante Debardeurcostüm nicht entrathen kann. Die sonstige Gegenleistung für jenen Gehalt besteht in dem Vortrag von zwei kleinen Liedern pro Abend, und das Repertoire einer solchen „Sängerin“ heißt bereits ein großes, wenn es deren zehn oder zwölf umfaßt.

Es liegt nahe, daß unter solchen Umständen der Andrang zu diesem Fach – zumal in den größeren Städten – ein sehr bedeuteter ist. Zwei Monate Gesangsunterricht, zwei hübsche Costüme und – die Chansonette ist fertig. Je kürzer das Röckchen, je größer die Gage! Die ehrwürdige Harfenistin von ehedem, die in unserer Jugend auf allen Messen und Märkten ein „obligatorisches“ Uebel jedes öffentlichen Locals war und hinter dem hohen Instrument so gravitätisch in der verschossenen Seidenrobe thronte, würde sich neben der Chansonette etwa wie Urväterhausrath neben einem amerikanischen Schaukelstuhl moderner Construction ausnehmen. In der That haben die alten Sängergesellschaften auch fast überall dem Tingeltangel Platz gemacht; ob auf dem „Hamburger Berg“ noch heute die einst weit und breit berühmten (!) Harfenisten-Familien seßhaft sind, vermögen wir nicht zu verkündigen.

Caeterum censeo, Carthaginem esse delendam“ – „im Uebrigen meine ich, daß Carthago zerstört werden müsse,“ so schloß einst der hartnäckige alte Römer jede Senatssitzung. Und ebenso hartnäckig sollte die öffentliche Meinung Tag für Tag wiederholen: „Fort mit den Auswüchsen des Tingeltangelwesens – in die rechten Schranken mit dieser Aftermuse, ehe sie noch mehr Unheil anrichtet!“ Und daß dieser Wunsch in Erfüllung geht, dazu helfe Vater Apollo mit allen Musen, die ihren legitimen Ursprung nachweisen können ohne gefälschtes Taufzeugniß!




Gerechtigkeit in Rom.

Erinnerungen eines einstigen Schlüsselsoldaten.

(Fortsetzung.)


Luigi Boticelli hatte außer dem gleichen drückenden Joch der römischen Herrschaft mit seinen Nachbarn nur wenig Gemeinsames; denn er war nicht aus der Gegend, und seine Lebensanschauung stand in vollem Gegensatze zu derjenigen der Bauern. Seine Familie stammte aus dem Florentinischen und zählte den gemüthvollen Meister der Renaissance ihres Namens, Lippi’s, Gozzoli’s und Fra Bartolomeo’s Zeitgenossen, zu ihren Ahnherren. Vor Generationen war ein Vorfahr nach der Provinz Frosinone übergesiedelt, wo er sich in dem Städtchen Anagni niedergelassen hatte; dort blieb seine Nachkommenschaft seßhaft, dort wurden auch Luigi und seine Geschwister geboren. Nach des Vaters Tode hatte der ältere Bruder die ererbte Handlung fortgeführt, während Luigi mit seinem kleinen Erbtheil einen einträglichen Viehhandel betrieb. So führten sie schlecht und recht ihre Geschäfte, bis die Zeit von 1848 auf 1849 kam, das Priesterregiment wankte und für eine kurze Zeit der Republik weichen mußte. Luigi wie sein Bruder waren den neuen Ideen zugethan und begrüßten daher mit Freuden die Umwälzung, aber keiner ergriff activ Partei gegen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_686.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)