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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

führten. Darin finden sich ganz bestimmte Summen verrechnet, mit denen Mitglieder des Reichskammergerichts (darunter sogar ein Vicepräsident) vom Rathe zu Leipzig für gemeinsame Rechnung bestochen wurden.

Eine weitere Verkümmerung erfuhr die oberstrichterliche Gewalt des Reichskammergerichts durch die bald entstandene Concurrenz einer zweiten, ähnlichen Instanz: des kaiserlichen Reichshofraths, der, wie jenes vorwiegend von den Ständen des Reichs, so seinerseits fast ausschließlich vom Kaiser besetzt und daher beeinflußt ward. Hier war der Gunst und Parteilichkeit noch mehr Thor und Thür geöffnet.

Und endlich sorgten die Stände, insbesondere die Landesherren, dafür, daß die Kaiser in den Wahlcapitulationen, welche jeder vor seiner Krönung unterzeichnen mußte, feierlichst versprachen, die Reichsgerichte – das Reichskammergericht sowohl wie den Reichshofrath – dahin anzuhalten, „daß sie wider Kurfürsten, Fürsten und Stände des Reichs auf von dero Landsassen und Unterthanen bei ihnen angebrachte Klagen nicht leichtlich Proceß erkennen, sondern vorher um Bericht (von den Verklagten) schreiben, auch gegen der Kurfürsten, Fürsten und Stände landesherrliche Rechte auf keine Weise verfahren sollten“.

Kein Wunder daher, wenn die Annalen der deutschen Geschichte aus dem vorigen Jahrhundert reich sind an Beispielen von zum Theil schreienden Rechtsverletzungen, denen gleichwohl durch die Reichsgerichte entweder gar keine oder nur eine sehr späte oder unvollständige Abhülfe geschafft wurde, während äußerst selten einmal wider allzu grobe Gewaltthat und Ungesetzlichkeit einzelner Machthaber (natürlich immer nur kleinerer) ein reichsgerichtliches Erkenntniß erging, wobei es noch allemal fraglich blieb, ob nun solches auch wirklich vollstreckt ward.

Als nach der Wiederbefreiung Deutschlands die deutschen Fürsten auf dem Wiener Congresse an die Neugestaltung des nationalen Gemeinwesens gingen, da rief die öffentliche Stimme laut wieder nach einem Reichs- oder Bundesgerichte. Die Schäden der alten Reichsgerichte waren vergessen, oder man hoffte, daß sie sich nicht erneuern würden: die Idee und das Bedürfniß eines obersten Rechtsschutzes lebte unaustilgbar in den Gemüthern. Im Rathe der Fürsten selbst fand diese Idee und dieses Bedürfniß einen warmen Fürsprecher an Preußen. Aber der starre Widerstand der Mittelstaaten erwies sich stärker und siegreicher als die Beharrlichkeit der preußischen Regierung, obschon diese nur nach langem Sträuben auf ihren Vorschlag eines Bundesgerichts verzichtete. Was dann um volle zwanzig Jahre später, 1834, an dessen Stelle mühsam zu Stande kam, ein sogenanntes Bundesschiedsgericht zur Austragung von Verfassungsstreitigkeiten zwischen Regierungen und Ständen, das trug den Keim des Todes seiner ganzen Anlage nach in sich und ist auch niemals wirklich in’s Leben und in Thätigkeit getreten.

Erst die freigewählte Vertretung der deutschen Nation, die 1848 bis 1849 in Frankfurt am Main tagte, nahm mit voller Kraft und Entschiedenheit den Gedanken der Errichtung eines Reichsgerichts in Angriff. Nur leider blieb er, wie die ganze dort zu Stande gebrachte Reichsverfassung, damals ein bloßes Ideal und ein frommer Wunsch. Nicht besser erging es dem, obschon sehr abgeblaßten Nachbilde jenes Reichsgerichts in der preußischen Unionsverfassung.

Wie viel Schweres aber wäre dem deutschen Volke erspart geblieben, wenn in den Zeiten maßlosester Reaction, die bald darauf über Deutschland hereinbrachen, jede Verfassungsverletzung, jeder Mißbrauch amtlicher Gewalt, jedes dem Einzelnen angethane Unrecht vor einem unbestechlichen, unabhängigen höchsten Gerichtshof sich hätte verantworten und der von diesem gesprochenen Entscheidung beugen müssen!

Auf so düsterem Hintergrunde unserer vaterländischen Vergangenheit hebt sich doppelt leuchtend das Bild der nationalen Einrichtung ab, welche die glücklichere Gegenwart uns Jetztlebenden bietet und hoffentlich einer langen Reihe kommender Geschlechter vermachen wird: das Bild des neuen Reichsgerichts zu Leipzig.

Das Bedürfniß nach einem solchen obersten Gerichtshofe für das ganze Reich hat zum Theil, den Zeitverhältnissen entsprechend, veränderte Gestalt und Richtung angenommen. Der Rechtsschutz für den Einzelnen, obschon nicht mehr so ganz dringend wie unter der Herrschaft des schrankenlosen Despotismus und der Cabinetsjustiz im vorigen Jahrhundert, wird gleichwohl noch immer eine wichtige Aufgabe dieser hohen Reichsbehörde sein; allein kaum minder wichtig und in seiner Anwendung auf praktische Fälle noch weit häufiger begehrt ist die Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit der Rechtssprechung in jenen zahlreichen und oft sehr verwickelten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, welche namentlich unser vielgestaltiger Handel und Verkehr hervorbringt – Streitigkeiten, deren Entscheidung nach particularen Rechten und durch particulare Gerichte eben diesem Handel und Verkehr oft so empfindliche Nachtheile schuf.

Durch die in ihren Grundzügen bereits den Lesern der „Gartenlaube“ dargelegten (vergl. den Artikel von Helbig in Nr. 37) großen Justizgesetze, das dankenswerthe Geschenk des deutschen Reichstages von 1876, wurden die Formen des Gerichtsverfahrens und die Grundlagen der Gerichtsverfassung nach allen Seiten hin einheitlich gestaltet. Das Strafrecht war schon 1868 ein gemeinsames geworden; für das bürgerliche Recht ist die gleiche Einheitlichkeit angebahnt durch die gründlichen Vorarbeiten einer aus den bedeutendsten theoretischen und praktischen Capacitäten des deutschen Juristenstandes zusammengesetzten Commission, an deren Spitze derselbe Mann, der Wirkliche Geheime Rath Dr. Pape, steht, der zehn Jahre hindurch als erster Präsident des 1869 eingesetzten Bundesoberhandelsgerichts (seit 1871 Reichsoberhandelsgericht genannt) die Verhandlungen des letzteren mit ausgezeichnetem Geschick geleitet hat. Die zehnjährige Wirksamkeit dieses engeren Gerichtshofes, dessen Thätigkeit sich im Wesentlichen auf Handels- und Wechselsachen, Fälle des Nachdrucks- und des Haftpflichtgesetzes beschränkte, hat das deutsche Volk und insbesondere die deutsche Geschäftswelt die Wohlthaten einer einheitlichen Rechtspflege bereits kosten lassen; der Schritt von da zum Ausbau eines Gerichts, dessen Praxis, gestützt auf eine über alle Rechtsgebiete sich ausdehnende gemeinsame Gesetzgebung, das ganze Rechts- und Verkehrsleben der Nation umspannen soll, war ein durchaus natürlicher und nothwendiger. Und so war es auch wohl nur natürlich, daß die Verlegung des neuen, erweiterten Gerichtshofes eben dahin erfolgte, wo die segensreiche Wirkungsstätte des bisherigen gewesen war, nach Leipzig, indem so gleichsam symbolisch angedeutet ward, wie das Reichsgericht bestimmt und berufen sei, die Erbschaft des Reichsoberhandelsgerichts anzutreten.

Die Gerichtsbarkeit des nunmehr in’s Leben tretenden Reichsgerichts umfaßt neben der Rechtssphäre des Reichsoberhandelsgerichts auch die davon bisher noch ausgeschlossenen Theile des bürgerlichen Rechts und das ganze Strafrecht. Sie reicht soweit, wie das Gebiet des Civil- und Strafprocesses reicht. Seiner Entscheidung fallen in letzter Instanz sowohl alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten von größerem Belang, wie auch alle wichtigeren Strafsachen anheim. Insbesondere sind die Sprüche der Geschworenen im Wege der Revision (wegen Verletzung gesetzlicher Formen) nur beim Reichsgericht anfechtbar. Kein Bundesstaat, auch der größte nicht, kann sich der Gerichtsbarkeit des Reichsgerichts entziehen. Eine einzige, jedoch nur vorübergehende Ausnahme findet statt: die größeren Bundesstaaten mit mehreren Oberlandesgerichten können einem davon gewisse sonst dem Reichsgericht zuständige Entscheidungen bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten zuweisen, für welche das bürgerliche Recht noch kein gemeinsames in ganz Deutschland ist. Denn wo Reichsrecht gilt, da entscheidet auch das Reichsgericht. Diese Berechtigung, von der übrigens nur Baiern, nicht einmal Preußen, Gebrauch gemacht hat, findet aber nicht statt bei den bisher der Zuständigkeit des Reichsoberhandelsgerichts anheimgefallenen, sowie bei allen durch besondere Reichsgesetze dem Reichsgericht jetzt schon ausschließlich zugewiesenen Sachen.

Das Reichsgericht ist der einzige zuständige Gerichtshof in Fällen des Hochverraths und des Landesverraths, die gegen Kaiser und Reich gerichtet sind. Endlich hat es in den Staaten, welche keinen obersten Verwaltungsgerichtshof besitzen, die Vorentscheidung bei Klagen von Privatpersonen gegen Beamte wegen Ueberschreitung ihrer Amtsbefugnisse oder Unterlassung denselben obliegender Amtshandlungen. Diese hochwichtige Entscheidung, die früher fast überall den obersten Verwaltungsbehörden zustand, wird hierdurch einer völlig unparteiischen Instanz, wie sie das Reichsgericht ist, anvertraut. In dessen Hand ist es somit gelegt, einerseits öffentliche Beamte vor leichtfertigen und unbegründeten Verfolgungen zu schützen, anderseits dem verletzten Staatsbürger den Weg civilrechtlicher oder strafrechtlicher Verfolgung seines gekränkten Rechts

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