Seite:Die Gartenlaube (1879) 649.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

darauf, daß es an entfernt liegende Banken und Sparvereine abgeliefert würde.

„Schließlich wußte ich,“ fährt Miß Hill fort, „daß ich lernen müßte, diese Leute als meine Freunde zu betrachten und dadurch instinctmäßig dieselbe Achtung vor ihrer häuslichen Unabhängigkeit zu hegen, sie mit derselben höflichen Rücksicht zu behandeln, wie ich beides irgend einem anderen Freunde beweise. Es durfte keine Einmischung vorkommen, kein Eindringen in ihre Zimmer ohne Aufforderung, kein Anerbieten von Geld oder Gegenständen des Lebensbedarfes. Wenn aber die Gelegenheit selbst kam, mußte ich ihnen jede Hülfe gewähren, wie ich sie anderen Freunden, ohne zu verletzen, auch darbieten kann – Theilnahme in ihrer Betrübniß, Rath und Beistand in ihren Schwierigkeiten, nützliche Empfehlungen, Mittel der Erziehung, ein Buch, um in den Tagen der Arbeitsunfähigkeit zu lesen.


“Ach, Du meine Güte!“
Nach seinem Oelgemälde auf Holz übertragen von H. Clementz.


Ich bin überzeugt, daß Vieles von dem, was für die Armen gethan wird, unter anderen Uebeln an einem Mangel von Zartgefühl und höflicher Rücksicht krankt und daß wir ihnen nicht in wohlthätiger Weise helfen können, sobald es in irgend einem andern Geiste geschieht, als in dem wir unseres Gleichen helfen würden.

Es ist ein großer Vortheil, der aus der Einrichtung dieser Häuser entspringt, daß sie eine Prüfungsschule bilden, in welcher die Leute sich besserer Situationen würdig beweisen können. Nicht wenige der Miethsleute sind unter die gesellschaftliche Schicht, in welcher man sie einst gekannt hatte, herabgesunken, und einige von diesen gewannen einfach dadurch, daß sich ihr Charakter bewährte, ihre frühere Lebensstellung wieder. Ein Mann war vor zwanzig Jahren Diener einer Herrschaft gewesen, hatte Geld gespart, ein Geschäft angefangen, geheirathet, fallirt und war dann damit aus den Fugen des Verdienstes gekommen. Als ich ihn kennen lernte, hatte er ein erbärmliches Stück Brod für seine Frau und sieben Kinder, und alle neun siechten und sanken dahin, ohne daß Jemand davon wußte. Nachdem ich ihn drei Jahre lang beobachtet und geprüft hatte, konnte ich ihn einem Herrn auf dem Lande empfehlen, wo nun die Familie statt eines Zimmers deren sechs bewohnt, frische Luft und regelmäßigen Lohn genießt.

Es ist aber viel leichter, hülfreich zu sein, als Geduld und Selbstbeherrschung genug zu haben, um zeitweise Leiden zu sehen und ihnen nicht abzuhelfen. Und doch muß der Ton der Behandlung im Wesentlichen ein strenger sein. Es bedarf vieler Verweise und Zurückweisungen, wenn auch eine tiefe, stille Unterströmung von Mitgefühl und Erbarmen darunter hergehen mag.

Ein schöner Zug in dem Charakter der Armen ist ihr Vertrauen; es war ganz wunderbar zu beobachten, wie groß und wie bereitwillig dieses ist. In keinem einzigen Fall ist mir Argwohn begegnet, oder irgend etwas anderes als vollkommenes Vertrauen. Es ist unnöthig zu sagen, daß es nicht an kleinen Schwierigkeiten und Enttäuschungen gefehlt hat. Jeder Einzelne, dem es nicht gelang sich soweit zu erheben, um die so gern gebotene Hülfe zu ergreifen, ist für mich ein fühlbarer Verlust gewesen; denn ein wirkliches Gefühl, daß diese Leute zu mir gehörten, ist in mir lebendig geworden, und ich habe ein starkes Bewußtsein von Verantwortlichkeit gehabt, auch wo am wenigsten Liebenswerthes in einem Charakter zu finden war.“

Nach der finanziellen Seite hin erzielte Miß Hill einen befriedigenden Erfolg; denn es konnte bei einem Ertrag von fünf Procent Zinsen für das angelegte Capital nicht nur ein Fonds zur Rückzahlung angesammelt, sondern auch eine reichliche Bewilligung für Reparaturen gemacht werden, und hier muß der Mittel gedacht werden, wodurch die Miether gewöhnt wurden, sich mit Zerbrechen und Verwüsten in Acht zu nehmen. Die für Reparaturen jährlich bewilligte Summe ist für jedes Haus festgesetzt; bleibt etwas davon übrig, so wird der Rest zu solchen weiteren Bequemlichkeiten verwandt, welche die Miether selbst wünschen. Auf diese Weise liegt es in ihrem eigenen Interesse, die Ausgaben für Reparaturen so niedrig wie möglich zu halten, und anstatt leichtsinnig Schaden anzurichten, sind sie darauf bedacht, Beschädigungen zu vermeiden, und zeigen sich hülfreich und erfinderisch in sparsamer Herstellung des Zerbrochenen und Verdorbenen.

Miß Hill ließ auch ein großes Versammlungszimmer für die Mietsleute bauen; das dazu verwendete Capital verzinste sich gleichfalls aus den Mietbeträgen. „Hier werden nun,“ berichtet sie, „die Unterrichtsstunden gehalten – zweimal wöchentlich für Knaben, einmal für Mädchen. Eine zahlreich besuchte Arbeitsstunde für Frauen und erwachsene Mädchen findet einmal wöchentlich statt. Es ist eine gute Zeit zu ruhigem Gespräch mit ihnen, indeß wir da

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_649.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)