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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

auf diese Frage geben konnte, Herr Amtsrichter,“ erwiderte sie. „Endlich kam mir der Einfall, daß Josua King am Ende ein Verbrechen begangen, vielleicht eine schimpfliche Strafe erlitten hätte – und daß er – ohne mir das zu sagen – mein Schicksal an das seine zu ketten versuchte. Der Gedanke empörte mich und ließ mir wochenlang keine Ruhe. Und diese furchtbare Ahnung ist jetzt bei mir zur Gewißheit geworden, Herr Amtsrichter!“

„Was wissen Sie denn, liebes Fräulein? Und durch wen?“

„Ich würde Ihnen das nicht sagen,“ erwiderte sie, indem abermals ihr Auge sich mit Thränen füllte, „wenn Sie nicht ganz dasselbe, wenn auch auf Umwegen, durch Nachforschung bei den Behörden erfahren könnten. Und vielleicht trotzdem noch nicht – aber ich bin, wie Sie sehen, vom Vater King’s ausdrücklich ermächtigt, Ihnen das mitzuteilen.“ Damit überreichte sie Kern den Brief und das äußere Postcouvert, die zu dem früher schon vorgezeigten Umschlag gehörten.

Der Poststempel wies auf einen Flecken bei Thorn hin. Der Brief selbst war an Natalie Becker, als die „Braut“ Josua King’s gerichtet. So habe Josua sie seit Pfingsten in seinen Briefen an die Eltern bezeichnet. Nun habe der Vater vom Schulzen gehört – und er habe es in der Zeitung gelesen und das Blatt dem Alten auch vorgezeigt – daß Josua wegen eines ruchlosen Mordes in Haft sei. Der arme, brave alte Mann beschwor in seiner Herzensangst die vermeintliche Braut des Sohnes, sie möchte ihm Alles sagen. Das Schlimmste sei nicht schlimmer, als die bange Zweifelsnoth, in der er mit der alten Mutter lebe. Sie hätten Alles, was ihnen Gott verliehen – es sei blutwenig gewesen – ihr Lebtag an die Kinder gewendet, vor Allem an Josua, den Begabtesten, um sie in Zucht und Sitte zu erziehen. Und Josua habe, wie sie ja wissen werde, ihnen alle Mühe so schlecht gelohnt. Kaum siebenzehn Jahre alt, habe er eine ganze Anzahl schwerer Einbrüche begangen, und sei zu drei Jahren Zuchthaus verurtheilt worden. Dann habe er ein ruheloses Wanderleben begonnen, bis er endlich in dem Städtchen Natalien’s dauernd reichliches Brod und die Liebe eines guten Mädchens gewonnen, wie er schrieb, die ihn trotz seiner drei Jahre Zuchthaus zum Manne nehmen wollte. Da endlich habe sich der Lebensabend der Eltern aufgehellt, und sie hätten zu Gott gehofft, daß ihnen die Sonne in reinem Glanze untergehen werde. Und nun diese furchtbare Botschaft! Natalie möchte ihnen nichts sagen, als die reine Wahrheit. Wenn der Sohn die alten Eltern belogen, wenn er auch dort den Weg der Lüge und Verstellung gewandelt, gar ein verruchter Mörder geworden sei, dann sei er ihr Sohn nicht mehr, dann dürfe sie diese Zeilen Allen zeigen, die an Erforschung der Wahrheit betheiligt seien.

Kern las den Brief mit tiefster Rührung. Ja, das waren die Herzensworte eines deutschen Mannes von echtestem Schrot und Korn! So schrieb die preußische Art, deren Altvordern Jahrhunderte lang den zähen, verzweifelten Kampf gegen die polnische Mißwirtschaft gekämpft, die im glorreichen Jahr Dreizehn zuerst gegen den Völkerbezwinger Napoleon sich erhoben hatten, die seit den Tagen des Freiherrn vom Stein auf freier Hufe saßen, den eigenen kargen Boden pflügten.

„Ich danke Ihnen, Fräulein Becker,“ sprach er bewegt. „Gestatten Sie mir, daß ich Ihren Zeilen an den tapferen alten Vater auch einige Zeilen zur Antwort beilege?“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Ein Jahresbericht aus Paris. Auf das segensreiche Wirken des seit Jahren in Paris bestehenden „Deutschen Hülfs-Vereins“ und die Nothwendigkeit, ihn zu unterstützen, ist von der „Gartenlaube“ schon früher hingewiesen worden. Zu unserer Freude erfahren wir, daß hierdurch dem Vereine manche Freunde gewonnen wurden, die bis dahin von seiner Existenz nichts gewußt hatten. In dem noch immer uns feindlichen Paris leben bekanntlich seit 1871 wieder sehr viele Deutsche, von denen sich ein sehr erheblicher Theil in höchst bedrängter, oft sogar in verzweifelter Lage befindet.

Der soeben erschienene Bericht über das Jahr 1878 meldet eine ganze Reihe erfreulicher Thatsachen. Aus den regelmäßigen Beiträgen seiner Mitglieder, sowie durch Zuwendungen von außerhalb hat der Verein in diesem Jahre über die Summe von etwas mehr als 30,000 Franken zu verfügen gehabt. Die Zahl der von den engeren Ausschüssen und seinen zweimaligen Wochensitzungen Unterstützten betrug 2812, und die Summe der gewährten Unterstützungen 24,655 Franken. Außerdem werden zahlreiche Kranke unterstützt und von den vier deutschen Vereinsärzten unentgeltlich in ihren Wohnungen behandelt, sowie Arme, denen es in Paris an jeder Aussicht fehlt, in die Heimath zurückgeschafft. Unter den Unterstützten befinden sich allein gegen 150 Personen über 70 Jahre, ferner zahlreiche Wittwen mit vielen Kindern, Familien, deren Ernährer seit Jahren gelähmt oder durch andere Gebrechen arbeitsunfähig ist. „Könnten unsere Landsleute,“ so heißt es in dem lesenswerthen Bericht, „einmal hineingeführt werden in die schmutzigen und engen Höfe von La Vilette und Montrouge, in so manches Zimmer, das kaum den Namen einer menschlichen Wohnung verdient, sie würden sich entsetzen über dieses Elend. Die meisten unserer deutsche Arbeiter verdienen hier durchschnittlich den Tag 3½ Franken (2 M. 80 Pf.). Davon soll eine jährliche Miethe von 180 bis 250 Franken, Nahrung und Kleidung für oft bis gegen zehn Personen bezahlt werden. Selbst wenn alle gesund sind, ist es schwer begreiflich, wie die Leute durchkommen. Was kostet nur das trockene Brod für so Viele, abgesehen von dem Elend, das bei Krankheit oder Verdienstlosigkeit eintritt!“

Unter solchen Umständen steigen daher die Anforderungen an den Verein mit jedem Jahre, sodaß er nicht alle Gesuche berücksichtigen kann. Eine Vermehrung der Vereinsmittel durch Beitritt oder sonstige Zuwendungen bleibt daher nach wie vor ein Erforderniß und eine große, vortrefflich angewendete Wohlthat. Zugleich wird von dem Ausschusse die Klage erneuert, daß so viele arbeitskräftige junge Leute ohne bestimmte Aussicht auf Arbeit nach Paris kommen, dann dem Vereine zur Last fallen und von ihm die Rückbeförderung in die Heimath beanspruchen, die er ihnen nur selten zu gewähren vermag.

Der Verein, dessen Ehrenpräsident der deutsche Botschafter Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst ist, besitzt als Reservefonds 48,000 Franken, wovon 20,000 Franken unantastbares Capital sind. Im Uebrigen floß ihm für seine Krankenpflege noch die Hälfte der Zinsen des von der deutschen Botschaft verwalteten Stiftungsfonds des Freiherrn von Diergardt für das künftige deutsche Hospital in Paris im Betrage von 6206 Franken zu. Der deutsche Kaiser gab wieder einen Jahresbeitrag von 4000, der König von Baiern einen solchen von 2000 Franken, sonst aber ist kein einziger deutscher Souverain in der Liste verzeichnet. (Unter den Wohlthätern gedenkt der Bericht auch unseres verstorbenen Ernst Keil, der Ehrenmitglied des Vereins gewesen ist.) Wir sind gewiß, daß diese Mittheilungen dem Vereine erneuerte Theilnahme gewinnen und patriotische Gemüther mit Stolz erfüllen werden im Hinblicke auf dieses erbarmungsvolle Liebeswerk deutscher Landsleute in der Fremde. Nochmals aber sei es gesagt: die Mittel des Vereins reichen nicht aus für seine Zwecke. Mögen die Zuschüsse nicht ausbleiben, derer er dringend bedarf!




Eine süße Last. (Zu dem Bilde auf Seite 629.) Vielleicht gedenkt der eine oder andere Leser im Anschauen unseres heutigen Strandbildes eines im vorigen Jahrgange dargebotenen verwandten Bildchens (S. 433): „Keine Wahl“ von Burmeister. Dort war es ein nordischer Strand, ein nordischer Himmel, nordische Leute, welche über die Leistung eines Christophorusdienstes verhandelten, und die prüde junge Frau „von der Spree oder Isar“ stand in zögernder Verlegenheit vor der Nothwendigkeit einer solchen Leistung. Diesmal grüßt die leuchtende Klarheit eines süditalienischen Himmels, süditalienische Lebenslust und Unbefangenheit aus dem Bilde, und der braune, plastisch-kräftige Fischer der neapolitanische Küste hat schwerlich lange zu warten gebraucht, ehe die Schöne, die er nunmehr zu der Küste hinauf trägt, sich seinen Armen anvertraute. Die helle Lebensfreude, jenes beneidenswerthe Erbtheil südlicher Klimate, springt über tausend Bedenklichkeiten des reflectirt nördlichen Wesens mit der reizvollen Naivetät hinweg, welche dem anmuthigen Geschöpf da droben aus dem strahlenden Gesichtchen lacht. Eine Last bildet die Schöne selbst für den kraftvollen Mann, und ohne Anstrengung ist es nicht abgegangen, aber leichtere Lasten wird er in seinem Berufe nicht oft zu tragen bekommen haben und am allerwenigsten – süßere als diese.



Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_640.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)