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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Von den drei von Lazzaretti gegründeten Gesellschaften suchte die „der Hoffnung“ die Grundsätze des Communismus durchzuführen. Bald gehörten derselben sechszig Familien von Besitzenden an; die Zeitdauer der Gesellschaft wurde vorerst vom 1. Januar 1872 bis zum 31. December 1890 festgesetzt. Zu den Gütern der Theilhaber kamen im gemeinsamen Pacht die Grundstücke eines Gönners des Propheten. Jeder Theilhaber bekam sein Büchlein, wo die von ihm abgelieferten Producte und Gelder verzeichnet und die zum Lebensunterhalt etc. zurückgezogenen Werthe in Rechnung gestellt wurden. Die Verwaltung führte im Auftrag des Gründers ein Bruder desselben. Welchen materiellen Nutzen der Prophet aus der Leichtgläubigkeit seiner Genossen gezogen habe, dürfte schwerlich jemals genau ausgemacht werden. Thatsache ist, daß durch ihn viele Familien in’s Unglück gestürzt worden sind. Eine Frau mußte zusehen, wie ihr Mann dem Propheten oder dessen Genossenschaft 1400 ererbte Lire und die ganze Kornernte des laufenden Jahres abtrat. Der Mann ist nun im Gefängniß, und die Frau hat nichts für sich und ihre Kinder.

Am 8. März vorigen Jahres verkündete der Prophet, daß er der David Isaia’s sei, der wahre Priester. „Mit mir ist der Papst,“ sagt er emphatisch, „mit mir ist der König; die Bischöfe sind mit mir; mit mir sind die Geistlichen. Ich, ja ich, werde am 14. März nach der ungeheuer großen Stadt Italiens, nach Rom abgehen; von hier aus werde ich mich auf den Weg machen, damit sich die Prophezeiung vollende, und dann wird mich der Apennin herabsteigen sehen wie Moses vom Berge Sinai; ich werde mich unter die kriegsgeübten Völker mischen und Frieden schaffen und Gesetze und Religionsgebräuche reformiren.“ Vorerst unterblieb die Expedition. Ein Räthsel ist, warum er bald darauf, nach einem abermaligen Aufenthalt in Frankreich, sich gegen einige Dogmen des Katholicismus, namentlich gegen die Ohrenbeichte, wendet, an deren Stelle er eine öffentliche Erklärung setzte, gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen sich selbst gesündigt zu haben.

Leidenschaftlich donnert er gegen die „abscheuliche Secte der päpstlichen Abgötterei“, die er ein Ungeheuer der Hölle mit sieben Köpfen als Symbol der sieben Todsünden nannte. Die Folge dieses anticlericalen und selbst antikatholischen Auftretens war, daß der Bischof von Montalcino die Kirche mit dem Interdikt belegte, die daselbst im Ungehorsam verbleibenden Priester a divinis suspendirte und zweimal den Präfecten der Provinz und außerdem den Justizminister anging, ihm zur Ausführung seiner geistlichen Anordnungen den weltlichen Arm zu leihen. Einer der Priester unterwarf sich nach einiger Zeit in aller Regel. Die Sicherheitsbehörde hätte gern den andern in seine Heimath zurückgeschickt, aber der Prophet hielt ihn zurück, wohl wissend, wie wichtig es für ihn war, daß seine Gläubigen jeden Tag die Messe hören konnten.

Von Frankreich aus hatte er am 21. Mai vorigen Jahres an einen Vertrauten geschrieben: „Aus den zwei Hymnen, die ich Dir beischließe (die eine spielte auf die allgemeine Republik an), wirst Du verstehen, daß die Zeit nahe ist, da wir das Schlachtfeld betreten und für den größten Theil der Erde die gemeinsamen Feinde des Vaterlandes und des Glaubens besiegen müssen.“ Die Anhänger Lazzaretti’s rüsteten sich denn auch in der That zum Angriff, der am 14. August (es wurde schließlich der 18. daraus) von Arcidosso aus erfolgen sollte, um von da nach Rom zu gehen und dort mittelst eines Wunders die seit so vielen Jahren ersehnten und gepredigten Reformen durchzuführen. Zu den Vorbereitungen gehörte das Absingen revolutionärer Lieder, die Ausrufung der allgemeinen Republik mit der Vernichtung der Throne, mit dem Umsturz der bestehenden Ordnung, während geistliche Functionen aller Art dazu beitrugen, die Aufregung zu vermehren. Die Hauptanhänger, die Vertrauten waren durch förmlichen Eid zur Geheimhaltung der näheren Pläne des Propheten verpflichtet.

Vom 5. Juli bis zum verhängnißvollen Tage war der Prophet wieder in Arcidosso, und zum Unglück wurde die Verstärkung des Gensd’armerie-Postens nach dem 14. August beinahe gänzlich zurückgezogen. Am Morgen des 18. August wurde unter dem Geläute der Glocken und unter Gesang und Zuruf der erregten Menge die rothe Fahne mit dem Motto: „die Republik ist das Reich Gottes“ auf dem Thurme des Berges aufgepflanzt. Nach dem Schlusse der Messe stieg man langsam in drei Haufen, die Kinder voraus, wie in einer Procession, mit sieben wehenden Fahnen den Berg herab. Von der Brust des Propheten leuchtete das bekannte Zeichen; sein Helm war mit drei Federn geschmückt und zeigte eine Taube, die zwei Olivenzweige im Schnabel hielt. Die Kleider der Getreuen, wozu die Stoffe aus Frankreich gekommen waren, hatten einen phantastischen Schnitt, der dem Sicherheitsbeamten zur Genehmigung vorgelegt worden war. Nicht mehr als sechszig bis achtzig Individuen trugen diese Kleider, die nichts mit einer militärischen Uniform zu thun hatten. Allen anderen gab Lazzaretti ein rothes Kreuz, welches Zeichen den großen Untergang der Völker und das allgemeine Blutvergießen verkünden sollte.

Je weiter der Zug vorrückte, desto größer wurde in Arcidosso die Angst aller derjenigen, die nicht zur Secte gehörten. Die Läden schlossen sich im Nu, desgleichen die Thüren und die Fenster der Privathäuser. Die Familienväter bewaffneten sich, so gut sie konnten; die Kinder, Frauen und Greise weinten und schrieen. Der Staatsbeamte für die öffentliche Sicherheit und der Bürgermeister des Ortes gingen den Haufen entgegen, um Lazzaretti zu bewegen, daß er seine Leute zurückhalte und sich mit der Procession auf dem Gipfel des Berges begnüge, wie in den vorhergehenden Tagen. Der Prophet war diesen Vorstellungen unzugänglich; der Bürgermeister zog sich unverrichteter Dinge zurück. Der Polizeibeamte nahm seine Schörpe um und forderte Lazzaretti und seine Haufen auf, aus einander zu gehen. Der Prophet verlangte von den Carabinieri die Niederlegung der Waffen und rief dem Volke zu: „Ich bin der König. Vorwärts, Volk, vertheidigt Euch, entwaffnet sie!“ Die Carabinieri schossen in die Luft; der Prophet schlug mit seinem „Stab“ (es war ein recht dicker Stock) den Polizeibeamten, der gleichzeitig mit dreien seiner Leute von einem Hagel von Steinen überschüttet wurde, die nachweislich vom Berge mitgenommen worden waren. Die acht Carabinieri feuerten nun im Ernste auf die Masse, die allerdings keine langen Feuerwaffen, wohl aber Pistolen etc. mit Jagdmunition hatte und im Getümmel Leute aus ihrer Mitte verwundete.

Nach einem späteren Berichte hätten die Aufrührer zuerst geschossen und Gewalt gebraucht. Vier Todte und vierzehn Verwundete – das war das Ergebniß des verhängnißvollen Tages.

An der Stirn getroffen, fiel gleich im Anfang der Prophet und mit ihm der Muth und das Vertrauen seiner Anhänger, welche er durch die Zusicherung angefeuert hatte, er werde mit der flachen Hand die Flinten- und Kanonenkugeln gegen die Soldaten zurückschleudern. Nach dem blutigen Zusammentreffen verbarricadirten sich, um Verstärkung abzuwarten, die Carabinieri und die Bürger in der Caserne, beziehungsweise in ihren Wohnungen. Auch die Aufrührer zogen sich zurück; die Flucht lichtete bald ihre Reihen. Um neun Uhr Abends starb der Prophet, umgeben von einer geringen Zahl seiner Allertreuesten.

Das Aufsehen, welches die Vorkommnisse von Arcidosso erregten, war ein großes. In Italien selbst haben sich die politischen Parteien der Angelegenheit bemächtigt, und es regnete Anklagen gegen die Regierungsgewalt, welche nicht zeitig genug eingeschritten sei, um das Unglück zu verhüten.

Die interessanteste, aber auch schwierigste Seite der Frage ist die psychologisch-politische, die Frage: aus welchen Antrieben Lazzaretti handelte und ob jemand und wer die geistigen Fäden in der Hand hielt, die ihn leiteten.

Ohne über die Redaction der vier Gesetzbücher ein Urtheil zu fällen, ehe uns dieselben vollinhaltlich vorliegen, können wir doch auf Grundlage des Mitgetheilten sagen, daß die in denselben enthaltene Weisheit recht wohl aus den öffentlichen Blättern der socialistischen und clerikalen Partei zu gewinnen war. Die Clericalen thun sich etwas zugut darauf, den heiligen David rechtzeitig den Behörden denuncirt zu haben, ehe derselbe gefährlich wurde. Wir wissen, daß die Behörden seit Jahren ein Auge auf ihn hatten und ihn unschädlich zu machen suchten, und daß die Clericalen sich von ihm zurückzogen, als er einige Hauptpunkte des katholischen Glaubens angriff. Dadurch, daß die katholischen Geistlichen in Arcidosso von der Kanzel herab den Abfall Lazzaretti’s geißelten, wurde der Thatbestand sogar verdunkelt. Man glaubte mit Unrecht, ein Gezänke auf religiösem Boden vor sich zu haben, und übersah die communistische Seite. Viele aus der Gegend, welchen die communistische Richtung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_634.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)