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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

von den Augen dort sanken, dann sah die Majorin in das Gesicht ihres geschiedenen Mannes – und das geschah in diesem Augenblick.

Sie stieß einen halbunterdrückten Schrei aus und wollte sich erheben, aber sie sank wie gelähmt zurück und legte die Rechte mit einer schlaffen Bewegung wieder vor die Augen. Das war ja Alles tief vergraben gewesen im verschlossensten Seelenwinkel der alternden Frau, der berückende Blick der feurigen blauen Augen, das edle, bärtige Gesicht mit Geist und Humor in seinen Linien, die herrliche, ebenmäßige Gestalt voll ritterlichen Anstandes. Und wenn je einmal ein Klang, ein Wort von außen, ein unerwünschter nächtlicher Traum den kraftvoll niedergehaltenen Strom entfesselt und seine Wellen emporgespült hatte, dann war sie fortgestürmt aus dem Hause, auf die Felder hinaus; sie hatte nach Hacke und Spaten, nach Sichel und Erntegabel gegriffen und gearbeitet, bis sie todtmüde zusammengebrochen war und im tiefen, traumlosen Schlaf – vergessen hatte. Nun trat er ihr da von der Wand entgegen, jugendlich wiedererstanden in der ganzen verführerischen Herrlichkeit seiner Erscheinung, neben sich ein wunderschönes Weib, das sein war.

Eine Ahnung schien sie wie ein Blitz zu durchzucken.

„Das ist Ihr Platz – wer sind Sie?“ fragte sie kaum vernehmlich und sah unter der beschattenden geschüttelten Hand hervor in das Gesicht ihres Gegenüber.

„Ich bin Mercedes Lucian, Major Lucian’s Tochter zweiter Ehe,“ antwortete diese fest und stolz – es mußte ja doch gesagt werden, und wenn sie auch gezwungen war, einen Dolch in dem Herzen dieser Frau umzuwenden, sie durfte und konnte ihre Abkunft nicht eine Secunde verleugnen.

Und nun erzählte sie von der Heimath, möglichst schonend, ruhig und beherrscht. Und die Majorin sah den Mann, von dem sie unter innerer Genugthuung geglaubt hatte, er sei verkommen und verdorben, nachdem sie ihn verlassen, zu der Gewalt und dem Reichthume eines Fürsten auf seinem Plantagengebiete emporsteigen; sie sah ihn glücklich im Besitze einer schönen, vornehmen Frau. Sie erfuhr, daß der verstoßene Sohn in der That zu seinem Vater gegangen, mit offenen Armen empfangen und in alle Vorrechte eines geliebten, heißersehnten Kindes eingesetzt worden war. Aber an diese Mittheilungen reihte sich dann auch die Schilderung des grausen Bürgerkrieges, der seine Wogen verheerend über die glücklichen Gefilde gewälzt und Vater und Sohn in den Schlund des Todes gerissen hatte....

Bitter, bitter war der Kelch, den die Majorin, Tropfen um Tropfen, bis auf den Rest leeren mußte, und der stolze, starre Nacken beugte sich tiefer und tiefer, bis die Stirn auf die Arme sank, die sich auf der Tischplatte verschränkten.... So verharrte sie, als sei alles Leben aus ihr gewichen.

Sie hob auch den Kopf nicht, als plötzlich durch die offenen Fenster von der Straße herüber ein wüster Lärm Mercedes’ Mittheilungen unterbrach und Hannchen eintrat; sie meldete tieferregt, daß ein Zusammenlauf vor dem Klostergute stattfinde – Arbeiterfrauen hätten jammernd und schreiend die Nachricht gebracht, daß eine Kohlenwand im Bergwerke plötzlich eingestürzt, und ein furchtbarer Wasserschwall unaufhaltsam in die Gruben brause.

„Lassen Sie mich!“ murmelte die Majorin fast drohend und kaum die Stirn emporhebend, als Donna Mercedes ihr sanft die Hand auf die Schulter legte, um sie zu vermögen, sich aufzurichten. „Was geht das mich an? Der Mann hat über und übergenug“ – unbewußt wiederholte sie jetzt denselben Ausspruch, der sie einst im Munde ihres Sohnes empört hatte – „und wenn er nicht ein einziges Kohlenstück mehr gewinnt, er kann’s verschmerzen. Was ist der Verlust des Erdenplunders gegen die Schmerzen, die ich leiden muß! – O! Fahren Sie fort!“ – Sie drückte die Augen wieder auf die Arme und an Mercedes’ unterbrochenen Bericht anknüpfend, sagte sie schwerathmend: „Mein Sohn, mein armer Sohn erhielt den Schuß in die Brust auf der Schwelle seines brennenden Hauses –“ „Ja – und Jack rettete ihn und schleppte ihn auf dem Rücken in den nächsten Busch.“ – Und weiter erzählte Donna Mercedes, wie der Verwundete unter unaussprechlichen Mühsalen wochenlang durch verwüstetes Gebiet von treugebliebenen Schwarzen nach ihrer Besitzung Zamora transportirt worden war, weil er gewünscht hatte, bei Frau und Kindern zu sterben. Sie schilderte seine Sehnsucht nach der Mutter, sein heißes Verlangen, sie zu versöhnen und seine Kinder unter ihren Schutz zu stellen.

Inzwischen war es auf der Straße wieder vollkommen still geworden. Hannchen war auf die Bitten der Kinder und einen zustimmenden Wink Donna Mercedes’ im Zimmer geblieben. Sie kauerte neben José’s Fahrstuhl; ihre finsteren Augen streiften mit feindseligem Ausdruck wiederholt die tiefgebeugte Frauengestalt in der Fensterecke.... Damals, als ihr Vater, der unglückliche Adam, verzweiflungsvoll bittend an der Schwelle ihrer Küche gestanden, war dieser Nacken unbeugsam gewesen; damals hatte die hartherzige Dame gemeint, mit einem Stückchen Kuchen, das sie gnädig seinem Kinde reiche, beschwichtige sie die wunde Seele des armen Bedienten.... Ueber das verhaßte Klostergut und seine habgierigen Bewohner brach jetzt die Strafe herein – in die Kohlengruben, um deren willen ihr Vater den Tod gesucht hatte, stürzte eine unterirdische Wasserfluth und ersäufte die goldbringenden Schächte, und die Hochmüthige, die Harte dort, die wie eine tiefzerknirschte Büßerin die Stirn nicht wieder zu erheben wagte, sie weinte dem einzigen Sohne nach, den sie nie wiedersehen sollte.

Und von der Frau weg fuhr plötzlich der Blick des Mädchens auffunkelnd nach der Zimmerwand, an der sich die grüne Polsterbank hinzog. Sie erhob sich lautlos vom Boden, wie ein emportauchender Geist, starr das Schnitzgeflecht über der Bank fixirend, und der faul auf den Teppich hingestreckte Hund hob leise knurrend den Kopf von den Pfoten und schien die Ohren zu spitzen.

„Aber den Brief meines unglücklichen Bruders kann ich Ihnen leider nicht ausliefern – er ist mir hier, zu meinem Schmerz, nebst anderen wichtigen Familienpapieren entwendet worden,“ schloß Donna Mercedes mit sinkender Stimme ihre Mittheilungen, während die Majorin sich langsam emporrichtete.

„Siehst Du die Staubwölkchen dort auffliegen, José?“ flüsterte Hannchen in diesem Augenblick dem Knaben zu und zeigte mit dem ausgestreckten Arm nach der Wand. „Und horch, wie es tappt! – Jetzt kommt es wie tastende Finger an das Holz – hörst Du’s? – Du denkst wohl, das sei ein Mensch? – Bewahre – die Mäuse sind’s, die Mäuse! Die Leute sagen so, und dann muß es wohl wahr sein.“

Und auf den Zehen, athemlos, und so rot im Gesicht, als stürme ihr das ganze jugendheiße, hochwallende Blut nach dem Kopfe, trat sie der Wand näher, und Pirat erhob seine mächtige Gestalt und stellte sich knurrend und lauernd an ihre Seite, als wolle er sich im nächsten Moment mit gewaltigem Sprung auf das hervorkommende Nagethier stürzen.




34.

Obgleich die entsetzliche Katastrophe in den Kohlengruben seit mehreren Tagen mit deutlich vernehmbarem Finger geklopft und sich angemeldet hatte, waren die Leute doch unbeirrt aus- und eingefahren, denn die verschriebenen Techniker von Ruf, die der Gefahr vorbeugen sollten, wurden nunmehr jede Stunde erwartet, und „gar so eilig werde es ja der Tückebold da drunten nicht haben“, hatten die Leichtsinnigen, den Herrn Rath an der Spitze, sorglos gemeint.

Die Frauen der Grubenarbeiter waren gerade mit dem Mittagsbrode für ihre Ehemänner durch das kleine Thal gegangen, als plötzlich ein dumpfes Dröhnen den Boden unter ihren Füßen erschüttert hatte. Gleich darauf waren ein paar schreckensbleiche Männer aus den Gruben zu Tage gefahren, um das furchtbare Geschehniß zu verkünden. Sie hatten sich noch retten können; wie es um die Anderen stehe, deren angstvolles Hülferufen bis zu ihnen gedrungen war, darüber hatten sie nichts zu sagen gewußt – nur die Thatsache, daß das Wasser als unermeßlicher Schwall drunten hervorstürze und binnen Kurzem Alles ersäufen müsse, war als das Unumstößliche von ihrer schreckgelähmten Zunge wiederholt hervorgestammelt worden.

Was im ersten Augenblicke an Ort und Stelle zur Rettung der Verunglückten gethan werden konnte, war sehr wenig; der größte Theil der Arbeiter befand sich in den Gruben; kaum einige Mann standen dem Inspector zur Verfügung, aber die Weiber rannten in Sturmeseile, alarmirend und laut jammernd, durch die Stadt nach dem Klostergute und drangen, umringt von einem immer stärker anwachsenden Menschenschwarm, bis in die Hausflur.... Ein zeterndes Wehklagen, in welches sich das unwillige und drohende Gemurmel der mitgelaufenen Menschen mischte, hallte schauerlich von den alten Wänden wieder. Die Knechte

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