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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Frau im schwarzen Kleide mit dem schönen, farblosen Gesicht und den schneebleichen Lippen, die sich zitternd öffneten und schlossen, ohne einen Laut hervorzubringen.

Wie ein Fürstenkind lag der Knabe da, den das alte Klosterhaus neulich wie mit tückischen Fangarmen in seinem häßlichsten Winkel festgehalten. Ein Amulett funkelte an seiner Goldkette auf dem spitzenbesetzten Schlafkleidchen, das weiß aus dem übergeworfenen, seidengefütterten, blauen Sammetmantel schimmerte. Die alten Tuchweber aus dem engen Stadtgäßchen würden wohl den Kopf geschüttelt haben über das aristokratisch feine Menschenbild, in welchem auch ihr Blut floß, das Blut der Ackerbürger mit den schwieligen Händen und dem rauhen, störrigen Sinn.

„Geht es Dir wieder besser?“ fragte die Majorin halb flüsternd und bog sich tiefer über das Kind, daß sie den Athem des kleinen Mundes über ihre Wange hinwehen fühlte.

„Ach ja – aber müde bin ich. Und ich möchte doch so gern mit Paula und Pirat im Garten herumlaufen.“

„Paula ist Dein Schwesterchen?“

„Ja, weißt Du das nicht? – Sieh ’mal, die wunderschöne Kette, die ich mache! Willst Du sie haben?“

Er hing ihr die plump zusammengefügten Ringe der Löwenzahnstengel, an denen sich vorhin die schwachen Fingerchen emsig abgemüht, über den Arm.

„Ja, mein liebes Kind, die will ich behalten,“ sagte sie, und behutsam, als sei es eine zerbrechliche Filigranarbeit, sammelte sie die Kettenglieder in der Linken; dann griff sie mit der Rechten in die Tasche und zog den Becher heraus. „Ich will Dir auch etwas schenken, einen kleinen Trinkbecher, aus welchem Du künftig Deine Milch trinken sollst.“

Den Becher, den das alte Klosterhaus so lange gehütet, er lag jetzt auf der blauen Decke, und der Knabe griff mit beiden Händen danach.

„Ach, der ist aber schön!“ sagte er bewundernd und wandte ihn spiegelnd hin und her. „Ich danke Dir,“ rief er plötzlich aus vollem, erfreutem Kinderherzen und hob sich mit ausgestreckten Armen an der Frau empor, und sie – ihrer nicht mehr mächtig, schlang ihre Arme fester und fester um den kleinen Leib, der sich an sie schmiegte, und als wolle sie alle die trotzige Entsagung, die namenlos bittere, bohrende Reue, die furchtbare Einsamkeit der letzten Jahre, die grausame, übermenschliche Zurückhaltung, die sie neulich[WS 1] dem Kind gegenüber behauptet, in einem einzigen glückseligen Moment auslöschen und vergessen, bedeckte sie den Kleinen mit den Küssen einer fast wild hervorbrechenden Zärtlichkeit. …

Tiefaufathmend ließ sie das Kind in die Kissen zurücksinken.

„Willst Du auch an mich denken, wenn Du aus dem Becher trinkst?“ fragte sie – wer hatte je diese Stimme so weich, so bewegt und seelenvoll gehört?

„Ja, aber wie heißest Du denn?“

„Ich?“ – Das Blut, das ihr heiß nach dem Kopf geströmt war, sank jäh zurück und mit blassen Lippen wiederholte sie nochmals: „Ich?! Ich heiße Großmama!“

Damit trat sie rasch, fast wie flüchtend, von dem Knaben weg und schritt nach der Thür.

„Bleib’ doch da!“ rief er bittend.

Auf diese Laute hin wandte sie noch einmal den Kopf nach ihm, aber in demselben Augenblick bog der Neger um die Ecke des Ateliers. Noch ein Winken mit der Hand, dann war sie so rasch hinter der Mauerthür verschwunden, daß Jack nur noch einen Zipfel ihres langen schwarzen Gewandes wie einen Schatten hinausgleiten sah.




31.

Die Majorin schritt wieder auf dem gradlinigen Hauptweg des Klostergartens. Ihre Augen blickten wie traumverloren, als schreite sie in die weite Welt hinein und nicht durch den dunklen, dumpfen Holzstall in den engumgrenzten offenen Raum, von dessen Mauern der ganze wüste Lärm eines Oekonomiehofes widerhallte.

Mosje Veit war eben dem Schulzwang entlaufen. Er rannte, als sei er in einem engen Käfig eingesperrt gewesen, in tobender Ausgelassenheit durch den Hof und ahmte ein wildes Pferd nach, das in das Gebiß knirscht und schäumt.

Die Majorin blieb erschrocken stehen. Noch fühlte sie den Hauch des süßen Kindermundes auf den Lippen, und der zärtlich sanfte Knabe mit seinen großen sprechenden Augen, den sie in den Armen gehalten, er war schön wie ein Seraph; er hätte mit seinem grazienhaft ruhigen und edlen Wesen ein Fürstenhaus geziert – und er war ihr eigen Fleisch und Blut; der Lebensstrom, der einst von ihr ausgegangen, er hatte eben, wie zurückkehrend, in sanften Schlägen des kleinen Herzens an ihre Brust geklopft, unabweisbar zu ihr gehörend und die unnatürliche Schranke überfluthend, die das harte Gebot: „Ich will Dich nie wiedersehen, selbst nach dem Tode nicht,“ selbstsüchtig aufgerichtet. Und sie hatte einst gemeint, man könne vergessen und verwinden, wenn man nur ernstlich wolle; sie hatte sich all die Jahre hindurch immer angstvoller an den Namen ihrer Väter angeklammert, der wie ein knorriger Eichenstamm Jahrhunderte lang seine Eigenart behauptet und nach dem dünkelhaften Sinn der letzten seiner Töchter kein ausgeartetes, verkrüppeltes Reis tragen konnte. Sie hatte „vergessen und verwinden“ wollen um des Knaben willen, der da eben wie ein losgebundenes junges wildes Thier den Boden stampfte, der mit seinen schiefgestellten Augen tückisch nach einem Opfer für seine Peitsche suchte, und der in seiner brutalen Rohheit und Bosheit, seiner Lügenhaftigkeit der Schrecken Aller war. Gerade in diesem Augenblick kam ihm die Stallmagd in den Weg. Sie trug zwei volle Eimer und konnte sich nicht wehren, und das war ein zu günstiger Moment – sausend fuhr die scharfe Peitschenschmitze über die dünnbekleideten Schultern des Mädchens; sie stieß ein Wehegeschrei aus und krümmte sich vor Schmerz.

Mit raschen Schritten trat die Majorin aus dem Holzstall – sie entriß dem Knaben die Peitsche, zerbrach den Stock derselben und warf ihm denselben vor die Füße.

Er wollte wüthend auf sie losspringen – es lief ihr wie ein Schauer über den Leib; nach jenem innigen Umfangen durfte ihr dieses Element nie wieder nahe kommen. Sie stand da wie eine Mauer und streckte dem Heranstürmenden die geballte Hand entgegen.

„Fort – oder ich züchtige Dich, so lange ich eine Hand rühren kann!“ sagte sie mit ihrer eiskalten, harten Miene.

Er hatte die Kraft dieser Hand neulich zur Genüge gespürt und zog sich feige zurück.

„Der Papa wird Dir’s schon sagen. Wenn er nach Hause kommt, da kriegst Du Deine Leviten,“ drohte er und lief nach dem Pferdestall, wo noch verschiedene seiner Peitschen und Reitgerten logirten.

(Fortsetzung folgt.)




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
7. Glückliche Jugend.

Das Paradies soll ganz und für immer von dieser sündhaften Erde verschwunden sein? Wer das behaupten kann, der hat noch keine Christbescheerung, kein erstes Maienglöckchensuchen, keine bunten Ostereier und keine großen Ferien erlebt.

Das Paradies ist immer noch da, ganz unverdorben, in seiner wunderherrlichen Glückseligkeit, und wir Alle, Alle sind auch mit darin gewesen in jenem Paradiese, das man – die Kinderzeit nennt.

Freilich, wie lange wir darin waren, und wie viel von seinen Herrlichkeiten wir schmecken durften, das hat zumeist von dem guten Willen unserer Eltern abgehangen. Jetzt sind wir selbst Eltern geworden und halten es in unserer Hand, unseren Kleinen den Antheil zuzumessen, den sie am Kindheitsparadiese haben sollen, und da möchte ich doch alle Eltern, die ihre Kinder lieb haben, darum bitten, recht reichlich zu messen.

Das junge Menschenkind ist schon so oft mit einem Bäumchen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: nenlich
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_548.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)