Seite:Die Gartenlaube (1879) 452.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


in Ruinen zerborstene Wand in das Heiligthum hinein. Viele dieser Todtenstätten sind arg verwildert. Disteln, Nesselstauden, hohes Gras wuchern um die Steine, die den Leichnam decken. Ueberall ragt am Kopfende ein steinerner Turban, ein dicker Knopf auf langem Steinhalse über das Grab hinaus. Wie im Leben die Zahl der Schnüre von Kameelhaar, die der Araber um’s Haupt wickelt, seine Vornehmheit, seine Stellung anzeigen, so windet man auch um das Steinmal dieselbe Zahl von Schnüren. Einige der maurischen Kirchhöfe, besonders derjenige in der Nähe der Burg und des Beypalastes, sind besser gehalten. Dort leuchten die hellen Grabstätten aus tiefem, verwildertem Dickicht, aus Myrthe, Rosmarin, Tamarisken hervor. Die Stimmung ist eine ungemein ernste, melancholische auf diesen Friedhöfen. Hier hinaus schlüpfen die tunesischen Frauen an uns vorüber. Sind sie erst auf dem Friedhofe angelangt, wo sie sich unbelauscht wissen, so fällt das verhüllende äußere Gewand. In ihre flatternden weißseidenen Haiks gekleidet, schreiten sie von einem Grabe zum andern. Sie beten; sie kauern nieder, füllen die Luft mit Wehklagen und lautem Geheul. Die allgemeine Klage geht über in ein Gespräch mit dem Todten. Sie fragen ihn nach der Schuld, die sie begangen, ob sie ihre Pflicht vergessen hätten, weil der Geliebte sie so grausam verlassen. So stöhnen, über die Gräber gebeugt, Mütter, Weiber, Kinder. Schnell gleitet manchmal ein Leichenzug an den weißen Trauergestalten vorüber. Er hat Eile, denn so lange das Grab nicht geschlossen ist, sucht der Würgengel, nach dem Glauben des Propheten, neue Opfer. Der Abend beginnt sich über die Flur zu senken. Da erschallt das Abendgebet des Muezzin von dem Minaret der nächsten Moschee herüber – der Feiertag ist zu Ende; eilig huschen die wieder vermummten Gestalten im Halbdunkel ihren engen Gassen zu.




Im Kampf der Meinungen.
Vier Zeitsonette.
Von Emil Rittershaus.

                    1.

Du fragst, warum ich nie mich pfleg’ zu regen,
Wenn hinter’m Becher die Parteien zanken? –
Wo an der Schwatzsucht hohle Köpfe kranken,
Will ich beschaulich still der Ruhe pflegen.

5
Ich lieb’ das Wort als kühngeschwungnen Degen;

Ich lieb’ als blanke Lanze den Gedanken,
Doch soll in festen, ritterlichen Schranken
Sich allezeit der Gegner Kampf bewegen.

Dort, wo der niedre Troß der Streiter sich

10
Mit Schmutz bewirft, um eitler Rauflust willen,

Da sah ich nie der Weisheit Born entquillen.

Da gilt nicht Degenstoß noch Lanzenstich,
Da gilt die derbste Faust, die frechste Zunge,
Und mehr als Kraft der Gründe Kraft der Lunge.

                    2.

15
Das ist’s, was ich am Kampf des Tages hasse,

Daß Jeder zeiht den Gegner des Gemeinen.
Der Eine thut’s in Worten, dolchesfeinen,
Der Andre im bekannten Ton der Gasse.

Verächtlich ist mir jene Menschenclasse,

20
Die kein Bejahen kennt und kein Verneinen;

Demantenklar soll Männersinn erscheinen,
Doch nie die Hand von edler Waffe lasse!

Ist dies das Volk, aus dem ein Goethe stammte?
Oft fragt’ ich’s mich, wenn ich es mußte hören,

25
Wie blinde Kampfwuth schmähte und verdammte.


Soll alles denn zur gleichen Fahne schwören
Im Streit der Meinung? Laßt die Klingen blitzen,
Doch ohne Gift auf ihren scharfen Spitzen!

                    3.

Kein Wortturnier, kein spielend Silbenstechen,

30
Es ist ein heißer Kampf um hohe Güter,

Der tief erregt die Geister und Gemüther,
Doch soll auch hier nur Ernst und Würde sprechen.

Wir sehn die Noth die Kraft des Landes schwächen;
Der Stern des Glücks, es war ein rasch verglühter. –

35
Ihr Volksvertreter, ihr, des Landes Hüter,

Nun sinnt zu heilen Wunden und Gebrechen!

Doch Eins vor Allem: Nichts von Rückwärtsschreiten!
Kein Feilschen mit des Pfaffenthums Vasallen,
Bei dem das Volksrecht soll den Kaufpreis geben!

40
Kein Schachern wie’s der Brauch in Jahrmarktshallen –

Und Wahlspruch sei und bleib’ in allem Streiten:
Im Geist der Freiheit nur ist Licht und Leben.

                    4.

Freiheit ist Lebensluft der Nationen.
Nie sollst Du ob der Einheit sie vergessen –

45
Was Dir, o Volk, an Rechten zugemessen,

Es gilt noch mehr als alle Lorbeerkronen.

Ein freier Sinn steht aufrecht vor den Thronen,
Sucht schmeichelnd nie die Hand der Gunst zu pressen –
Die von dem Bettelbrod der Gnade essen,

50
Mag die Verachtung und die Schmach belohnen.


Der Freiheit treu und treu dem Vaterland!
Von diesem Ziel kein Weichen und kein Wanken! –
Den Vätern werden's einst die Enkel danken.

In diesem Streben einig Hand in Hand

55
Auf eb’nem Pfad, auf rauhen Dornenwegen –

Und Deutschlands Zukunft wird erblühn in Segen.




Die Wetter-Prophezeiung einst und jetzt.
Von Carus Sterne.
1. Die Astrometeorologie.

Im Anschlusse an die vorjährige Versammlung der deutschen Naturforscher und Aerzte zu Kassel fand, wie schon zwei Jahre früher, eine Conferenz darüber statt, in welcher Weise nach dem Muster der Vereinigten Staaten und anderer Länder die vorgeschrittene Meteorologie der Neuzeit auch in Deutschland für Handel und Gewerbe, Landwirthschaft, Garten-, Forst- und Weinbau etc. nutzbar gemacht werden könnte. Die Idee, eine Organisation zu schaffen, durch welche beinahe Jedermann im deutschen Reiche erfahren könnte, welche Temperatur, Windrichtung, Niederschläge etc. er am nächsten Tage an seinem Aufenthaltsorte zu gewärtigen hat, steht in sonderbarem Widerspruch mit der Entsagung, welche den berühmten Naturforscher Arago noch 1846 sagen ließ: „Kein Naturforscher, der auf seinen Ruf halte, werde sich mit Wetterprophezeiungen versuchen“, und erinnert andererseits lebhaft an die staatliche Organisation der Wetterprophetie, wie sie bereits im alten Assyrien statthatte.

Aus den im letzten Jahrzehnt entzifferten Ziegelsteinblättern der königlichen Bibliothek von Ninive hat man zahlreiche Beweise entnommen, daß den Staatsastronomen Assyriens unter vielen andern Obliegenheiten auch die Pflicht auferlegt war, aus dem Studium der Gestirne das Wetter für die verschiedenen Provinzen des Landes abzuleiten und vorherzuverkünden.

„Wenn der Mond,“ heißt es auf einer solchen Tafel, „am 1. und 28. des Monats dasselbe Ansehen zeigt, so ist das ein

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_452.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)