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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Wohl hatten die beiden Frauen ihre „Schuldigkeit“ gethan, aber das gab ihnen weder Frieden noch Freudigkeit.

Hanna war mit sich selbst in argen Zwiespalt gerathen. Tief hatte ihr altes Herz die ihrer holden Herrin zugefügte Schmach mitempfunden, aber von Zeit zu Zeit ertappte sie sich darauf, daß sie im inneren Herzen mehr Mitleid mit ihrem Herrn empfand, als ihm nach ihrem Bedünken zukam. Sein geduldiges Ertragen aller Leiden, die Dankbarkeit und Freundlichkeit, mit der er ihre Dienstleistungen hinnahm, seine demüthige Verehrung für Clotilde, die liebevolle Sorge um die Ueberbürdete, die er oft gegen Hanna laut werden ließ, – dies alles sprach bei ihr zu seinen Gunsten. Doch wenn sie sich dann wieder jene Tage in’s Gedächtniß rief, wo der Jammer Clotildens Herz zu brechen drohte, dann erfaßte sie gerechter Zorn gegen den Mann, der das verschuldet hatte. Aber sah sie eine Stunde später den Schuldigen in finsterer Schwermuth vor sich hinstarren, nichts, gar nichts sehend und hörend von dem holden Frühling, der mit Sonnenschein, Blumenduft und Vogelsang durch die geöffnete Gartenthür zu ihm in’s Zimmer drang – dann wollte es ihr wieder zu hart erscheinen, daß Clotilde nie einen freundlichen Blick, nie ein herzliches Wort für ihn hatte. Freilich, sie arbeitete unermüdlich für ihn; sie entbehrte für ihn alles, was ihr Bedürfniß war, was ihr selbst die letzten öden Jahre noch ein wenig erhellt hatte!

Und Clotilde! Sie kannte sich oft selbst nicht mehr. Wohin war ihr die Freudigkeit der Arbeit geschwunden, wohin die weichen, sanften Empfindungen, die in ihrer Jugend jede ihr angethane Unbill so leicht verzeihen halfen? Hoffnungslose Schwermuth hatte sich ihrer bemächtigt. … Wenn sie sich auch sagte. „ich darf die Augen nicht schließen und die Hände nicht erkaltend ruhen lassen, bis er als ein ganz Genesener wieder in’s Leben treten kaum,“ so erfaßte sie doch oft tiefe Sehnsucht, zu sterben.

So lange Rudolph ganz hülflos dalag, wie ein fremder Leidender, dessen Pein sie linderte, so lange ertrug sie’s noch. Doch als mit anderen Kräften auch sein geschwundenes Sehvermögen wiederkehrte, als ein Blick, ein zärtlicher Blick aus seinen Augen sie traf, der sie mit Schaudern an die todte Vergangenheit erinnerte – da schmerzte der Stachel lebhafter in ihrer Brust. Seit dem Augenblick mied sie sein Krankenzimmer und überließ seine Pflege fast ganz den Händen ihrer Hanna.




Heute saß Clotilde in früher Morgenstunde in die Hefte ihrer Schülerinnen vertieft, die sie verbesserte. Schon zum zweiten Male hörte sie Rudolph’s Glocke erschallen, der Hanna seltsamer Weise keine Folge zu geben schien. Sie begab sich in die Küche, in Hanna’s Zimmer, aber die Gerufene war nirgends zu finden. Auf dem Herde stand Rudolph’s Frühstück, nach dem er zu verlangen schien. Nach kurzem Zaudern ergriff sie es und brachte es ihm selber. Ein heller Schein der Freude ergoß sich über die abgezehrten Wangen des Kranken, als er sie so unerwartet über seine Schwelle treten sah.

„Clotilde, Du selber?“ fragte er mit Innigkeit und streckte ihr unwillkürlich die weiße Hand entgegen. Doch sie stand mit gesenkten Augen und mit so ernstem, herbem Ausdruck da, daß seine Freude erlosch.

„Hanna scheint ausgegangen zu sein,“ sagte Clotilde gepreßt. „Ich wollte Dich nicht hungern lassen.“

„Ich danke Dir. Du bist die Güte selbst. – Aber – –“

Sie sah flüchtig zu ihm auf, als er stockte. „Nun aber –?“ fragte sie gelassen. „Hast Du sonst noch einen Wunsch?“

„Clotilde!“ rief er plötzlich mit leidenschaftlicher Stimme, und der lange verhaltene Schmerz brach gewaltsam durch. „Clotilde, gieb mir einen Becher voll Gift! Hab’ Erbarmen! Laß mich nicht langsam an diesen Martern zu Grunde gehen, die mich Schuldigen verzehren!“

Clotilde fühlte sich erschüttert; ein Zittern flog durch ihre Glieder, und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Aber durch den feuchten Schleier stieg ungerufen, wie ein Dämon, die Gestalt einer schönen, aber hassenswerthen Frau vor ihr auf, die einst ihr Herz so rücksichtslos, so tödtlich verwundete, an die er sie verrathen hatte. …

„Deine Nerven sind noch zu erregt,“ sagte Clotilde und trat ein paar Schritte zurück, „Du mußt jede Aufwallung zu vermeiden suchen. Laß uns nicht an Dinge rühren, die nie, nie ungeschehen zu machen sind! Wir müssen die Folgen durch unser ferneres Leben tragen – Du und ich –“

„Clotilde, nur noch ein Wort!“ rief er ihr nach und streckte die zitternden Hände nach der Fliehenden aus. Doch sie hörte ihn nicht. In ihrem kleinen Zimmer sank sie in die Kniee. Ihr Busen wogte stürmisch, und wo sie sonst ihr Herz so warm klopfen fühlte, empfand sie einen jähen, stechenden Schmerz.

Rudolph war in seinem Krankenstuhle zusammengesunken. … Noch eine Stunde später, als Hanna zu ihm ging, saß er mit geschlossenen Augen da, und sein Frühstück stand unberührt auf dem Tische.

Seit diesem Tage schleppte sich Rudolph oft in den Garten hinaus und suchte seine schwachen Kräfte durch langsames Auf- und Abwandern unter den schattigen Bäumen zu stärken.

Endlich durfte er auch weitere Spaziergänge unternehmen, und er durchstreifte, wenn auch mit großer Anstrengung, die Umgebung nach allen Richtungen. Doch was half es ihm … Seine Stimmung wurde mit jedem Tage trüber; der Ausdruck seines bleichen Gesichtes immer finsterer.

Die gute alte Hanna ging in großer Betrübniß zwischen ihrem düstern Herrn und ihrer starren jungen Herrin hin und her, die ihr Beide fremd und fremder wurden. „Das endet ja nicht gut,“ dachte sie … „Ach du mein Gott!“ –

„Ich fürchte, der gnädige Herr wird uns noch auf’s Neue wieder ernstlich krank!“ sagte sie endlich an einem Sonntagabend schüchtern zu Clotilde. „Heute nahm er den ganzen Tag noch keinen Bissen zu sich; alle Speisen mußte ich unberührt wieder hinaustragen. Nur ein Glas Wein sah ich ihn vorhin hastig hinunterstürzen. Er mag auch wohl selber ein neues Krankenlager vermuthen; denn er hat Alles in seinem Zimmer sorgfältig geordnet und weggeräumt, wie er in früheren Zeiten vor jeder Abreise zu thun pflegte.“

Clotilde schwieg.

„Sogar sein Kasten mit den Pistolen,“ fuhr Hanna fort, „die damals mit seinen Militärkleidern herkamen, ward heute nachgesehen, und Alles, was darin war, fein blank geputzt. Jetzt steht er ebenfalls wohlverwahrt im Schrank! – Und er selber, der arme, gnädige Herr, so bleich sieht er aus in seinen schwarzen Kleidern, wie er dasitzt und schreibt.“

„O Hanna, wie Du wieder übertreibst!“ warf Clotilde ungeduldig hin, „Ich fand ihn heute, als er nach dem langen Spaziergang zurückkam, durchaus nicht bleicher als sonst.“

„Nun, ich sage ja nur, was ich sehe und was ich weiß. Und – und – ich meine nur –“ sagte sie stotternd und knüpfte an ihren Schürzenbändern; „ich meine, wenn die gnädige Frau ihm nur einmal ein freundlich Wort sagen wollten, da möchte es doch vielleicht bald besser mit ihm werden. Er hat sich wohl schwer versündigt,“ setzte sie leise hinzu. „aber auch hart gebüßt.“

„Hanna!” fuhr Clotilde auf. „Glaubst Du, daß ich weniger leide, als er?“

„O, wie könnte ich das! Davor soll mich Gott bewahren! Meine alten Augen müssen es ja mit ansehen, wie meine herzensgnädige Frau sich verzehrt.“

„Nun, so mache das Uebel nicht noch größer, indem Du daran rührst! Ich meine doch, wir wollten niemals darüber reden?“

Ohne Hanna’s weitere Antwort abzuwarten, wandte Clotilde sich hastig von ihr ab und begann wieder zu schreiben.

Als die treue Alte mit einem tiefen Seufzer hinausgegangen war und Clotilde sich allein sah, legte sie die Feder aus der Hand.

„Er schreibt auch?“ dachte sie. „Was mag er schreiben? Und was bedeutet das Alles? Will er heimlich fort? Doch wohin? Wird ihm das Leben zu unerträglich hier im Hause? O Gott, unser Leben!“ stöhnte sie. „Ist es denn nicht unerträglich auch für mich?“

Sie vertiefte sich, wie sie es täglich that, in ihre finstern Gedanken. Darüber ward es Nacht, und sie saß noch immer einsam da, den Kopf in die Hände gestützt. Durch die Stille um sie her drang ein Geräusch aus Rudolph’s Zimmer, das durch einen schmalen Gang von dem ihren getrennt war, an ihr Ohr. Eine seltsame Unruhe überkam sie.

„Er noch wach? Noch auf? Warum suchte er nicht längst die Ruhe, die ihm so noth thut?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_442.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)