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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

sie wie ausgestorben Das Cönacul ist zu einer Fleischbank gemacht, und wir sind gezwungen in dem kleinen Auditorium zu speisen.“

Aehnliches geschah auch wieder 1757, 1758 und 1760, sodaß es dieser Ungunst der Zeitereignisse gegenüber großer Anstrengungen bedurfte, die Schule gedeihlich weiter zu führen.

Im Jahre 1812 wurde an der Ostseite des Gebäudes ein geräumiger Speisesaal und die Bibliothek eingerichtet. Die alten Klosterzellen verschwanden, Schlafsäle und heizbare Wohnzimmer traten an ihre Stelle. Der sogenannte „Zwinger“ ward angekauft und zu Spielplätzen für die Jugend eingerichtet, die unter herrlichen Lindenbäumen in diesem großen, rings von hoher Mauer umgebenen Garten sich nun in den Freistunden ergehen konnte – wo später auch stattliche Turngeräthe sich erhoben, als das Turnen nicht mehr wie sonst für staatsgefährlich galt. Auch die hohe Mauer wurde zur Hälfte abgetragen und so den Jünglingen gestattet, über sie hinwegzusehen. Mehr und mehr war demnach der klosterartige Charakter verschwunden; die Fortschritte der Zeit gingen auch hier nicht spurlos vorüber, und sie zwangen schließlich zu einer umfassenderen That.

Schon im October 1870 gelangte ein Vortrag des Afrarentamtes nebst einem Neubau-Entwurf des Amtsmaurermeister Naumann von Meißen an das Ministerium des Cultus, in welchem darauf aufmerksam gemacht ward, daß die Schlafsäle des alten Gebäudes zu eng geworden, daß die Schülerstuben zu dunkel und niedrig und die Localitäten des Parterre, Lehrzimmer, Festsaal etc. dumpfig und ungesund seien. – Diese Vorlage konnte erst in der Sitzungsperiode des Landtages von 1873 bis 1874 vorgelegt werden; zwar genehmigte die Zweite Kammer im Princip den Bau der Schule auf Staatskosten, lehnte aber für diesmal den von der Regierung vorgelegten Entwurf zu demselben, sowie die dazu geforderte Summe von 300,000 Thalern ab und ersuchte die Regierung, dem nächsten Landtag einen neuen Plan nebst billigerem Kostenanschlag vorzulegen. Dies geschah mit dem Entwurf des Baurath Müller in Leipzig; veranschlagt auf 666,800 Mark, ward derselbe 1875 der Ständeversammlung vorgelegt und am 1. März von der ersten, am 5. April von der zweiten Kammer bewilligt. Am 18. April 1876 that man den ersten Hammerschlag, um den Neubau vorzubereiten, begann mit Abbruch der Westseite des alte Baues, schloß auch im August mit Baumeister Hartwig aus Dresden den Hauptvertrag über die Ausführung des Neubaues nach dem Müller’sche Entwurf, und schon am Königs-Geburtstag des folgenden Jahres ward unter entsprechender Feierlichkeit der Grundstein gelegt. Da man zuerst nur den einen Flügel niederriß und baute, so konnten die Schüler in dem andern untergebracht werden. Die in der Südwestecke des Zwingers neu erbaute Turnhalle wurde schon am 1. November 1876 dem Gebrauch übergeben und diente einstweilen als Aula. Sie ist in edlem und doch zweckentsprechendem Stil gebaut und besitzt eine Hauptzierde in dem großen von Hübner, Scholz und Grüden für den Einzug der sächsischen Truppen in Dresden gemalten Bild. Ein Jahr später fand das Hebefest des vollendeten West- und Südflügels statt, welcher zu Pfingsten 1878 bezogen wurde.

Jetzt steht der ganze Bau vollendet da. Die beigegebene Illustration überhebt mich der Pflicht, das Aeußere des Neubaues zu schildern; so wird es genügen, wenn ich ein paar Angaben über die innere Einrichtung hier anfüge. Das Souterrain enthält im Westflügel: zwei Winterkegelbahnen und sieben Badestuben, im Südflügel: Vestibül mit Ausgang nach dem Garten und die Heizerwohnung, im Ostflügel: Keller, Brunnen und daran gebautes Kesselhaus. Im Parterre befinden sich acht Classenzimmer, ein physikalisches Lehrzimmer, die Schülerbibliothek und die Sammlungen, ein Zeichensaal und vier Musikzimmer, der Speisesaal, ein Lehrerzimmer und die Hausmeisterwohnung. Im ersten Stock sind zehn Wohnzimmer mit zehn Schüler-Garderoben, der Betsaal, die Wohnung des Rectors und des Wocheninspectors. Der zweite Stock enthält die prachtvolle Aula (Festsaal), den Gesangssaal und Tanzstundensaal, drei Schlafsäle, zwei Waschsäle, die Schulbibliothek und Lesezimmer. Außer der Haupttreppe, mit einem großartigen und geschmackvollen Vestibüle, befindet sich noch eine Nothtreppe im Westflügel; die Eingangsthür, zwischen den Schlafsäle, ist für gewöhnlich geschlossen; unter einer Glastafel in einer Fensternische ist der Schlüssel dazu; die Treppe mündet im Freien. Auch im Ostflügel befinden sich noch zwei Treppen.

Alles ist den Anforderungen der Neuzeit entsprechend eingerichtet: Centralheizung mit starker Ventilation, Gasbeleuchtung, Wasserhebung aus der Anstalt der Gebrüder Sulzer in Winterthur in der Schweiz. Besondere Sorgfalt ist auf die Schlafsäle verwandt, welche absichtlich ohne Gas belassen sind.

Die Illustration zeigt, daß die neue Schule genau auf der Stelle der alten steht. Was die neue an Ausdehnung gewonnen, hat leider der Garten und Zwinger einbüßen müssen. Auch die herrlichen Lindenreihen der frühern Zeit sind gefallen; die Natur muß eben allenthalben der Cultur weichen.

Möge der Geist der Humanität des classischen Alterthums mit dem des zeitgemäßen Fortschrittes vereint auch in dem neu errichteten Heim deutscher Jugendbildung segensreich weiter walten! Die Tüchtigkeit des seit 1874 wirkenden Rectors Peter und ein berufseifriges Lehrercollegium, sowie die nach gesunden Principien geführte Rentamtsverwaltung des Hofrath Loth lassen das Beste hoffen.

Louise Otto.




Ein Volkskämpfer aus der Chartistenzeit.
Von Karl Blind.


Geschichtliche Rückblicke auf den Gang der neueren politische Reformbewegung in England, auf ihre Persönlichkeiten, ihre Kämpfe und Erfolge sind, namentlich im gegenwärtigen Augenblicke, für den deutschen Liberalismus fast eine Nothwendigkeit geworden. Nicht allein Belehrung nach verschiedenen Seiten hin kann er aus ihnen schöpfen, sondern vor Allem auch Mahnung zu überzeugungsfester Beharrlichkeit in dem endlosen Ringen mit immer neu sich wieder aufthürmenden Hindernissen.

Den Ausgangspunkt und ersten bedeutsamen Anstoß zu der Reform des englischen Staatswesens bildete die zwischen 1838 und 1851 dort stattgehabte tiefgreifende Volksbewegung, welche die neuere Geschichte unter dem Namen des Chartismus kennt. Diese Bezeichnung erhielt sie von der durch die Anhänger des Fortschritts im Jahre 1838 entworfenen „Volks-Charte“ („The People’s Charter“), die aus „sechs Punkten“ bestand und nichts verlangte, was ein Liberaler gemäßigtster Richtung nicht hätte unterschreiben können. Von der Stärke dieser Bewegung, die mehr als ein Jahrzehnt lang England in Athem erhielt, können wir uns heute kaum noch einen Begriff machen. Nur Diejenigen, die ihre Nachklänge noch mitempfinden, sind sich des gewaltigen Zuges bewußt, der damals durch das englische Volk ging. Nur sie auch erkennen voll und klar den inneren Zusammenhang, das geistige Band, das die späteren erfolgreichen Reformbestrebungen von 1866 bis 1868 mit den obengenannten, denen der Jahre 1838 bis 1851, verknüpft.

Die Quelle der Bewegung jener Zeit und ihre Hauptursache lag in einer Einrichtung, die man nicht beseitigen wollte, in der Zusammensetzung des Parlaments, das den Volkswillen zur Geltung bringen sollte und doch nur das Zerrbild einer Vertretung des Volkes, eine mit entscheidender Macht über die Gesetze und das Geschick des Landes ausgerüstete Lüge war. Von den zehn Millionen mündiger Männer Großbritanniens war durch das bestehende Wahlgesetz nur einer Million das Stimmrecht verliehen, die im Grunde aber auf höchstens etwa 800,000 sich verminderte, wenn man alle die Bevorzugten auf die einfache Zahl herabsetzte, welche durch ihren Besitz in Stadt und Land doppelt als Wähler eingeschrieben waren. Das war eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schrie, und endlich auch einen Mann wie den Quäker und Friedensfreund John Bright zu der Ueberzeugung führte, es könne und dürfe ein solches Wahlgesetz nicht länger aufrecht erhalten werden.

Heute trägt John Bright den Titel eines „Sehr Ehrenwerthen“ (Right Honorable). In Folge der gelungenen Reform ist er damals zum Rang eines Cabinetsministers aufgestiegen. In

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_435.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)