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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


ruhig feste Herrin geliebt, und nun war sie allein. Wenigstens dachte sie so. Ihr Blick vergrub sich in den bunten Teppich unter ihren Füßen, und unaussprechliche, schwarze Gedanken bemächtigten sich ihrer. Doch als sie endlich aufblickte, sah sie, daß die alte Hanna noch an den Thürpfosten gelehnt unbeweglich dastand und in kummervollem Schweigen vor sich niederstarrte.

„Du noch nicht fort?“

„Nein“ antwortete Hanna.

„Hanna, was Du von mir willst, weiß ich sehr genau. Du willst mir sagen, daß Du bei mir bleiben, mich nicht verlassen willst.“

Die Alte nickte stumm.

„Das geht aber nicht, meine gute Hanna. Ich habe jetzt nichts, gar nichts mehr, wovon wir Beide leben könnten; Alles, was ich mir von meinem Nadelgeld ersparte, habe ich eben vor Deinen Augen an die guten Leute gegeben, die bei uns gedient – auch durch unser Unglück mitzuleiden haben. Ich besitze nun nichts mehr, als mein Reisegeld und einen kleinen Zehrpfennig. In Dresden wird es mir schon gelingen, meinen Unterhalt zu erwerben, aber eine Dienerin kann ich mir nicht halten.“

„Und was soll denn aus mir werden, gnädige Frau?“ gab die Alte zur Antwort. „Soll ich in meinen alten Tagen noch zu fremden Leuten gehen, oder meine letzte Lebenszeit hier ganz verlassen hinbringen? Soll ich ohne eine Menschenseele, die mich lieb hat, all das viele Geld in Gram und Scham verzehren das ich mir in Ihrem und in Ihrer seligen Eltern Hause erworben habe? Das wäre ja eine Grausamkeit,“ setzte sie fast trotzig hinzu, „und die hätte ich eigentlich nicht verdient.“

„Hanna, meine gute alte Hanna, mußt Du mir das Herz auch noch schwer machen?“ – Clotilde brach in lautes Weinen aus.

„Ach, du meine Güte, davor soll mich Gott bewahren! Wie könnte ich wohl so etwas wollen!“ rief die Alte und trocknete der Weinenden mit dem Tuche, das sie ihr aus der Hand nahm, mütterlich die Thränen. „Ich hab’ meine Sache wohl recht ungeschickt angefangen? Seien Sie mir nicht böse, gnädige Frau! Sehen Sie, ich wollte nur sehr bitten, daß Sie mich mitnehmen, wohin Sie gehen, daß Sie mir erlauben, mein Stübchen ganz in Ihrer Nähe zu miethen, und meine paar Sechser unter Ihren Augen zu verzehren. Und wenn dann Eine von uns krank ist oder sonst eine hülfreiche Hand gebraucht, dann helfen wir uns gegenseitig aus.“

Sie blickte in bescheidener Einfalt vor sich hin, als hätte sie das Allernatürlichste von der Welt gesagt.

„Meine alte Hanna,“ sagte Clotilde und schloß die Alte in die Arme – „das sehe ich schon, Dich werde ich nicht los. Du wirst auch in Zukunft keiner fremden Hand gestatten, mir einen Liebesdienst zu erweisen.“

Sie hauchte einen Kuß auf die runzelvolle Stirn der Getreuen und überließ diese mit tiefer Rührung im Herzen ihrer kindischen Freude.




4.

Ein Jahr war vergangen, ein Jahr, das der muthig ringenden Clotilde wie ein schwerer Traum entschwunden war. Der sehnliche Wunsch ihres Herzens war erfüllt. Sie hatte mit dem Gelde, das ihr Oheim und Vormund ihr heute ausgezahlt, sich mit den Gläubigern ihres Mannes völlig abgefunden. Niemand warf mehr einen Stein auf ihn. Nun durfte er wiederkehren, konnte Allen frei in’s Auge sehen. Er würde mit ihr arbeiten, mit ihr leben – in bescheidenen Verhältnissen freilich – aber seine Sehnsucht müßte so groß wie die ihre sein. Mit ihr vereint, würde er auch in der so ganz veränderten Lebenslage wieder glücklich werden.

Sie saß heute in der Villa ihres Onkels in demselben Stübchen, wo sie ihren holden Mädchentraum geträumt, wo sie ihm den Brief geschrieben hatte mit dem jubelnden „Ja“, das sie zu seiner Braut gemacht. Nun saß sie nach sechs Jahren an demselben Tischchen und schrieb wieder an den theuren Mann. Und wie vor sechs Jahren ihr Brief den Harrenden in das Haus gerufen, wo sie lebte, so sollte heute ihr Schreiben ihn aus weiter, trauriger Ferne in ihre Arme zurückführen.

Ihre Stimme klang so fröhlich, als sie auf ein Klopfen an der Thür ihr munteres „Herein!“ rief. Ein kleines Mädchen brachte einen Brief, den Clotilde glückselig an die Brust drückte. Er war von ihm. Mit ungeduldigen Fingern zerriß sie das Couvert. Sie las und las – doch sie kam nicht über die erste Seite fort. Alles Blut wich ihr aus dem Gesicht, und das Blatt zitterte in ihrer Hand. Kein Laut kam über ihre weißen Lippen, keine Thräne in ihre großen, versteinerten Augen. Unbeweglich blieben sie auf den Zeilen haften, die in schöner klarer Schrift ihr furchtbare Dinge sagten. Nach langem Starren wandte sie das Blatt um und um, griff bald nach ihrem Kopf, bald nach ihrem zuckenden Herzen und glaubte, sie sei von Sinnen.

Trotz der Erstarrung vernahm ihr Ohr Tritte, die sich ihrer Thür hastig näherten, und mit fast übermenschlicher Kraft suchte sie sich äußerlich zu fassen.

Dasselbe junge Mädchen, das ihr vor wenig Augenblicken den Brief übergab, brachte ihr nun die Nachricht, daß der Oheim seinen Kaffee in ihrer Gesellschaft zu trinken wünsche.

Warum sah die Kleine sie mit so beunruhigten Augen an? Clotilde zwang sich, ihr zuzulächeln und sagte, sie käme gleich. Zufällig blickte sie in den Spiegel und sah mit Schrecken ihr marmorweißes Gesicht. Sie rieb ihre blassen Wangen mit kaltem Wasser; sie übte sich eine freundliche Miene ein, und als sie an ihres Oheims Lehnstuhl trat, kam zu ihrer großen Beruhigung sogar ein leidlich natürlicher Ton aus ihrer zusammengeschnürten Kehle.

Doch als sie ihm die Tasse Kaffee bereiten wollte, zitterte ihre Hand so heftig, daß selbst die alten Augen es bemerkten. Der gute Graukopf betrachtete sie lange; endlich sagte er:

„Mein armes Kind, Du hast Dir heute zu viel zugemuthet! Warum ließest Du Dir nicht wenigstens von Leonhard helfen, wenn es durchaus geschehen sollte? Warum mußtest Du allein alle die großen Geldgeschäfte machen? Das war zu viel für Deinen jungen Frauenkopf.“

„O nein, mein lieber Onkel, Du irrst,“ entgegnete sie so überzeugend, wie sie es vermochte. „Das war ja reine Freude; die schadet keinem Menschen.“

„Das sagst Du wohl, Kind,“ meinte der Oheim kopfschüttelnd, „aber ich lasse es mir doch nicht ausreden: wenn man, von Jugend auf an Ueberfluß gewöhnt, Alles hingiebt, was man besaß, und nun für seine künftigen Tage nichts mehr hat, als was man bei voller Gesundheit mühsam erwerben kann – leicht muß das doch nicht sein. – Aber Du hast es so gewollt,“ fuhr er fort, als sie etwas entgegnen wollte. „Die Bitten und Vorstellungen des alten Mannes halfen nichts, und nun ist es geschehen. Ich will auch nichts mehr darüber reden. Wenn Du Deinem Onkel, der Dich wie ein Vater liebt, nur gestatten wolltest, daß er von seinem Ueberfluß zu Deiner Erleichterung eine kleine Summe jährlich –“

„Nein, nein, nein!“ fiel sie ihm bittend in die Rede. „Ich danke Dir tausendmal, aber davon darfst Du mir nichts mehr sagen. Glaube mir, ich bedarf dessen nicht. Du hast einen Sohn, dem ich nichts entziehen will.“

„Ich merke wohl, Du kannst mir nicht vergeben, Kind, daß ich mich in der entscheidenden Stunde von Leonhard beeinflussen ließ,“ sagte der Alte halblaut und legte seine welke Hand auf ihre zarten Finger. „Glaube mir, ich gewann selbst die Ueberzeugung, daß ich ein Unrecht und eine Pflichtverletzung begehen würde, wenn ich allem Verlorenen auch noch Dein väterliches Erbtheil nachwürfe. Hätte ich gewußt, daß Du es heute selber thun würdest –“

„Laß das Vergangene ruhen, lieber Onkel, und sorge Dich nicht um mich! Was ich Dir verdanke – meine Kenntnisse, für deren Erwerbung Du so väterlich gesorgt hast, die sind mir mehr werth, als alles Geld und Gut.“

Dem alten Manne traten die Thränen in die Augen. Er streichelte der jungen Frau die Wangen und schüttelte ungläubig und unzufrieden den Kopf.

„Es steht in Deinem lieben Angesicht geschrieben,“ sagte er mit Wehmuth, „daß Du Dir zu Schweres aufgebürdet hast. Gebe der Himmel Dir die Kraft!“

Der Eintritt Leonhard’s überhob Clotilde einer Antwort. Er sah sie forschend an. Sie ahnte, was kommen würde, und es blieb ihr nicht erspart.

„Du hattest wohl eine unverhoffte Freude, liebe Cousine?“

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